Das Versprechen der russischen Rekrutierer, die Häftlinge würden nach dem Dienst an der Ukraine-Front begnadigt, hielten Beobachterinnen und Beobachter lange für eine Lüge. Auch Sergej Sawelew von der russischen NGO Gulagu.net, die sich für die Rechte von Gefängnisinsassen einsetzt.
«Der Präsident muss eine Begnadigung gutheissen und tut dies nur äusserst selten. Aber offenbar sind in den letzten Monaten tausende Leute so entlassen worden», sagt Sawalew. Seiner Organisation liegen Entlassungspapiere von mehreren rekrutierten Häftlingen vor. Auf diesen ist vermerkt, dass sie per Entscheid des Präsidenten freikommen.
Geschätzte rund 20'000 Fälle
Dass Putin höchstpersönlich unterschrieben habe, sei unwahrscheinlich. Der ganze Prozess sei undurchsichtig. Offiziell ist nicht bekannt, wie viele rekrutierte Häftlinge begnadigt wurden. Doch auch Olga Romanowa, Gründerin der NGO «Russland hinter Gittern» geht von rund 20'000 Fällen aus.
Laut Romanowa wurde über die Hälfte der ehemals rekrutierten Häftlinge an der Front schwer verletzt. Darunter viele Drogensüchtige, die in russischen Gefängnissen übervertreten seien. Dass sie nun auf freiem Fuss sind, widerspiegle sich auch in der Drogenüberdosen-Statistik der letzten Monate.
Eine Resozialisierung ist ausgeschlossen. Diese Leute haben kein Verständnis mehr für Gut und Böse.
Nach der Begnadigung kümmere sich niemand um die ehemaligen Kämpfer, ergänzt Sawelew. Doch im russischen Strafvollzug habe die Vorbereitung auf ein Leben nach der Haft schon vor dem Krieg keine Rolle gespielt: «Sie haben ihre Haft nicht abgesessen, in der Ukraine oft Kriegsverbrechen verübt und kehren häufig traumatisiert von der Front zurück.» Eine Resozialisierung sei ausgeschlossen. Diese Leute hätten kein Verständnis mehr für Gut und Böse.
Mehrere Mordfälle nach Entlassung
Bei einem Teil der Zurückgekehrten handelt es sich um verurteilte Gewaltverbrecher. Einige sind bereits rückfällig geworden. Das unabhängige Medium «Wjorstka» hat zwölf Fälle dokumentiert, in denen Ex-Häftlinge nach dem Dienst bei Wagner einen oder mehrere Morde begangen haben.
In Karelien an der Grenze zu Finnland hat ein wegen Raubes verurteilter Ex-Häftling, der in der Ukraine gekämpft hatte, bei einem betrunkenen Amoklauf sechs Menschen getötet. In der Region Kirow erstach ein verurteilter Mörder, der ebenfalls bei Wagner gekämpft hatte, eine 85-jährige Frau.
Russische Bevölkerung in Sorge
Frauenorganisationen und die Angehörige von Mordopfern in Russland haben über die Begnadigungen grosse Besorgnis geäussert. Doch ansonsten schweigt die russische Bevölkerung weitgehend dazu. Das Regime duldet keine unangenehmen Fragen zu den Folgen des Angriffs auf die Ukraine. Dazu gehört auch Kritik an der Freilassung von Schwerverbrechern.
«Die Leute sehen, wie viele Menschen wegen Diskreditierung der Streitkräfte angeklagt werden», betont Romanowa und erinnert daran, dass das Gesetz dabei explizit auch die Privatarmeen einschliesst. Die Staatsmedien berichten nur gelegentlich über die Wiederholungstaten und präsentieren sie als Einzelfälle.
Warum freigelassen?
Warum also hat man diese Kämpfer laufen lassen, die den russischen Behörden nun die erwarteten Probleme bereiten? Nach Einschätzung von Sawelew wollen die Behörden Anreize schaffen, um die weiterhin laufende Rekrutierung in den Gefängnissen anzukurbeln. Inzwischen tut das vor allem die reguläre russische Armee.
Es war nicht vorgesehen, all diese Leute freizulassen. Man wollte sie weiterkämpfen lassen, bis die meisten gefallen sind.
Laut Romanowa lassen sich die beinahe massenhaften Begnadigungen auch mit dem Wagner-Aufstand im Juni erklären: «Es war nicht vorgesehen, all diese Leute freizulassen. Man wollte sie weiterkämpfen lassen, bis die meisten gefallen sind.»
Aber nach dem Aufstand von Prigoschin sei klar gewesen, dass Wagner nicht in der Ukraine bleibe, so Romanowa: «Der Kreml wollte das Problem dieser vielen tausend Wagner-treuen Kämpfer lösen und Wagner gleichzeitig schwächen: Also hat man sie alle auf einmal begnadigt.»