Die Rentenreform verursachte in Russland massive Proteste. Dennoch hat das Parlament die Reform letzte Woche durchgewunken. Nun muss am Mittwoch nur noch der Föderationsrat grünes Licht geben – was als reine Formsache gilt. Längerfristig könnte die Reform für Präsident Wladimir Putin indes zum Problem werden, sagt SRF-Russlandkorrespondent David Nauer.
SRF News: Ist die Unzufriedenheit der Russen ob der Rentenreform immer noch gross?
David Nauer: Ja, das sagen alle Umfragen; die Russen und Russinnen sind und bleiben unzufrieden mit dieser Rentenreform – natürlich vor allem damit, dass das Rentenalter derart steigen soll. Das Problem ist, dass die Lebenserwartung weiterhin sehr tief ist – vor allem für russische Männer. Die werden im Durchschnitt nur 67 Jahre alt, sollen aber in Zukunft bis 65 arbeiten, das heisst, sie können im Durchschnitt gerade einmal zwei Jahre Rente geniessen.
Da sagen jetzt viele russische Männer: «Ich werde nicht mal meine Rente erleben.» Deswegen bleibt der Volkszorn also sehr hoch. Kommt dazu, dass die Renten in Russland bisher schon sehr tief sind. Sie sollen leicht angehoben werden, aber das macht das Ganze zum Schluss doch nicht üppig.
Die Russen haben einfach gemerkt, dass sie nichts dagegen tun können.
Vor zwei Monaten haben Sie noch gesagt, Präsident Putin könnte sich letztlich als Beschützer des russischen Volkes inszenieren, indem er die Reform noch abschwächt. Diese Strategie hat also nicht wirklich gewirkt.
Nein, die hat nicht verfangen. Alle Umfragen zeigen, dass eigentlich mit Aufkommen dieser Rentenreform, Putins Zustimmungswerte deutlich gesunken sind – auf inzwischen unter 50 Prozent. Auch diese Abschwächung, die er da ins Spiel gebracht hat, hat daran nicht wirklich etwas geändert. Neue Umfragen sagen zwar, die Russinnen und Russen haben sich damit abgefunden, dass diese Rentenreform kommt. Sie bleiben aber Gegner dieser Rentenreform. Sie haben einfach gemerkt, dass sie nichts dagegen tun können.
Werden die Leute nach der Verabschiedung dieser Reform auch nicht mehr auf die Strasse gehen?
Ja, ich glaube die meisten Gegner dieser Rentenreform haben gemerkt, dass die Staatsmacht am längeren Hebel ist. Am Mittwoch soll ja noch die zweite Kammer des russischen Parlaments, der Föderationsrat, diese Reform beschliessen; das dürfte eine reine Formalität bleiben. Dann unterschreibt Putin dieses Gesetz und es ist definitiv beschlossen. Ich denke, die Russen machen einfach die Faust im Sack. Sie sind unzufrieden, aber sie müssen es akzeptieren.
Man spricht in Russland oft davon, dass es einen Kampf zwischen dem Fernseher und dem Kühlschrank gibt.
Kann die Rentenreform dem Präsidenten längerfristig etwas anhaben?
Ich denke schon, dass sich das längerfristig zu einem Problem entwickeln kann – jetzt nicht die Rentenreform selber, aber der darunterliegende Prozess. Russland steckt schon seit vielen Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise, die inzwischen zu einer Stagnation übergegangen ist. Aber es geht den Leuten nicht wirklich gut. Dennoch waren sie über längere Zeit zufrieden mit ihrer Regierung.
Das hat natürlich mit der Krim-Annexion im Jahr 2014 zu tun gehabt. Präsident Putin ist ungeheuer populär geworden, als er die ukrainische Halbinsel annektiert hat. Dieser Krim-Effekt, den man auch Krim-Konsens nennt, scheint sich langsam abzuschwächen. Man spricht in Russland oft davon, dass es einen Kampf zwischen dem Fernseher und dem Kühlschrank gibt – also zwischen der staatlichen Propaganda und den konkreten Lebensverhältnissen der Menschen.
Viele Jahre hat jetzt der Fernseher dominiert, die Leute waren begeistert von dieser Krim-Annexion, auch wenn es ihnen im Kühlschrank schlechter ging. Jetzt hat man den Eindruck, dass diese Rentenreform ein Symbol dafür ist, dass der Kühlschrank – der Lebensstandard – für die Menschen wieder wichtiger wird.
Das Gespräch führte Roger Aebli.