Warum ziehen russische Männer aus der Provinz freiwillig in den Krieg? Nicht nur wegen des Geldes, sagt der russische Antikriegsblogger Wadim Palko.
SRF News: Wadim Palko, Sie haben Russland letztes Jahr nach Kriegsbeginn verlassen. Sie schreiben Ihre Blogbeiträge über den Einfluss des russischen Angriffskrieges auf ihre sibirische Heimat, die Bajkalseeregion, aus der Ferne. Wie geht das?
Wadim Palko: Ich habe viele Quellen. Ein Beispiel: Ich habe über Satellitenbilder beobachtet, wie ein Teil eines Friedhofes in einer Kleinstadt ausserhalb von Irkutsk schnell grösser wurde. Es war der Friedhof für die Gefallenen in der Ukraine. Ich habe dann jemanden vor Ort gefunden, der bereit war, dort Fotos für mich zu machen und die Namen der Gefallen aufzulisten. Ich habe ein Netz von Freiwilligen, die mir Informationen liefern. Sie tun das aus einem einzigen Grund: Sie wollen die Wahrheit sagen und nicht schweigen.
Was glauben Sie, welchen Einfluss hat die sogenannte «militärische Spezialoperation» in der Ukraine, wie sie der Kreml nennt, auf die Bajkalregion?
Die russische Propaganda hat vom ersten Tag an versucht, ein Trugbild zu konstruieren. Nämlich, dass alle Putin unterstützen und meinen, dass es diesen Krieg gegen die Ukraine braucht. Aber ich selber erhalte viele Meldungen von Menschen, verschiedenen Alters und verschiedener Berufe, dass sie völlig schockiert sind von dem, was geschieht. Darunter sind auch recht bekannte Leute. Ich glaube, in meiner Ikrutsker Region gibt es sehr viele Menschen, die einfach schweigen und sich denken: Mein Gott, wenn das doch nur so schnell als möglich vorbei wäre. Aber eben, viele schreiben mir auch von einem Klima der Angst. Die Leute haben alle mitbekommen, dass Strafverfahren drohen, wenn du dich in der Öffentlichkeit gegen den Krieg wehrst.
Es gibt aber viele, die die «Spezialoperation» unterstützen. Tausende gehen freiwillig an die Front. Ist das wegen der hohen Löhne, welche die Armee verspricht? Diese liegen ja teils um ein Mehrfaches über dem, was russische Männer sonst in Ihrer Region verdienen.
Das nur dem Geld zuzuschreiben, wäre eine Vereinfachung. Es stimmt: So viel Geld haben viele Menschen in den russischen Dörfern noch nie gesehen. Aber es ist nicht nur das. Sie gehen in der Meinung, dass Russland dort etwas Gutes tut und die Menschen schützt. Die Leute glauben, sie täten dort niemandem etwas zuleide; sie brächten niemanden um. Im Gegenteil, sie denken, sie schützten dort die Menschen vor bösen ukrainischen Nazis. Und dafür erhalten wir noch viel Geld? Dann denken sie, warum nicht?
Auf Ihrem Blog publizieren Sie auch die Anzahl gefallener Soldaten aus der Irkutsk-Region. Nach Ihren Angaben sind es über 700. Führt das zu einem Umdenken in der Gesellschaft?
Mir scheint, bis jetzt sind noch nicht so viele Russen im Krieg, dass das im täglichen Leben spürbar wäre. Sehr viele Menschen blenden den Krieg aus. Sie sagen: Ich brauche keine Nachrichten; Politik interessiert mich nicht. Ich glaube, sie versuchen sich selber von Negativem zu schützen. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Sie grenzen sich ab, auch weil sie Angst haben. Ich kann das nachvollziehen. Kommt hinzu, dass die russische Propaganda sehr viel dafür tut, dass die Menschen glauben, es sei alles gut.
Das Gespräch führte Christof Franzen.