Dem russischen Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa werden Hochverrat und Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen. Ein Gericht hat den Kremlkritiker gestern zu 25 Jahren Straflager verurteilt. Eine beispiellose Strafe.
Russlandkenner Christof Franzen hat mit Russinnen und Russen gesprochen und die Reaktionen im Land verfolgt. Viele sind entsetzt über die Höhe der Strafe. Leute aus dem nationalistisch imperialistischen Lager halten es indes für eine angemessene Reaktion des Regimes.
Es sei anders als bei früheren Prozessen gegen Oppositionelle, sagt der SRF-Redaktor und frühere Russland-Korrespondent Christof Franzen. «Vor dem Gerichtsgebäude war es sehr ruhig. Wenn ich dann die Leute anrufe, dann sind die schon schockiert, auch sehr ernüchtert.»
Im Gegensatz zu Prozessen noch vor drei bis vier Jahren waren bei Kara-Mursas Prozess aber lediglich ein paar Menschenrechtlerinnen und ausländische Diplomaten anzutreffen. Früher demonstrierten bei solchen Prozessen oft mehrere Tausend Menschen vor dem Gerichtsgebäude.
Ein weiterer Unterschied zu früheren Prozessen besteht in der Medienlandschaft. 2018 und 2019 gab es in Russland noch freie Medien. Da waren zum Beispiel der Radiosender Echo Moskwy oder der TV-Sender Doschd. Dort wurden die Themen diskutiert und auch scharf kritisiert. All das gäbe es heute nicht mehr, erzählt Franzen.
Es herrscht eine grosse Spaltung im Land.
Während in der russischen Öffentlichkeit Kara-Mursas Prozess und der Krieg selbst kaum Wogen werfen, schaue es im Privatleben der Russinnen und Russen anders aus. Es gäbe eine grosse Spaltung im Land, sagt Franzen. «Und diese Spaltung, die geht auch durch die Firmen und Familien.» Viele würden einfach nicht mehr über das Thema reden, um Streit zu verhindern, was einer Grundstimmung im Land entspreche. «Man will mit diesem Konflikt nicht allzu viel zu tun haben.»
Franzen vermutet, dass sich das angesichts der vielen Tausend Männer im Krieg in den nächsten Wochen und Monaten ändern könnte. Gerade in den Provinzen habe er mit Leuten gesprochen, die vom Krieg direkt betroffen sind. Wenn das jetzt so weiter gehe, würde das vermehrt auch in Moskau oder in Petersburg zu spüren sein.
Viele Menschen fühlen sich unsicher
Es ist nicht zuletzt auch der russischen Propaganda im Land geschuldet, dass dennoch viele Menschen nach wie vor hinter der «Spezialoperation» stehen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Lewada seien das um die 70 Prozent, so Franzen. Allerdings spreche sich in diesen Umfragen auch rund die Hälfte für Friedensverhandlungen aus. Freilich nur unter der Bedingung, dass Russland am Ende als Gewinnerin dasteht.
Aber nicht nur in dieser Hinsicht unterscheide sich der jetzige Krieg von der Besetzung der Krim 2014. «Diese haben ganz viele Menschen im Land sehr freudig und auch offen unterstützt», erinnert sich Franzen. Diesmal unterstütze man den Präsidenten in Umfragen zwar, aber man tue dies ohne grosse Begeisterung.
So verhalten, wie viele dem Krieg in der Ukraine begegnen, so verunsichert würden sie sich bezüglich ihrer nahen Zukunft zeigen, sagt Franzen. Niemand wisse, ob es zu einer weiteren Mobilmachung komme. Und auch wenn wirtschaftliche Katastrophen bislang ausgeblieben seien, würden die Menschen spüren, dass es stetig abwärts geht. «Die Produkte werden teurer und ihre Ersparnisse schrumpfen.»