Am 24. Februar 2022 werden die Menschen in der Ukraine von Sirenengeheul geweckt, die ersten Raketen schlagen ein. Panzer rollen über die Grenze, bald rücken sie auch in Richtung der Hauptstadt Kiew vor. Nicht wenige Experten zeichnen das Schreckensszenario einer Ukraine, die sich innerhalb von Wochen, wenn nicht Tagen, der russischen Übermacht unterwerfen muss.
Es herrscht Krieg. Eine Bezeichnung, die der Kreml allerdings verboten hat: Er spricht von einer «Spezialoperation zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine».
Den Widerstand, der sich in Russland in den ersten Tagen des Krieges noch regte, hat Präsident Putin erstickt. Deshalb ist es fast unmöglich, die Haltung der Bevölkerung zu erfassen. Nur indirekt ergibt sich ein Bild: durch Umfragen von regierungsnahen Instituten und unabhängigen Meinungsforschenden.
Sie unterscheiden sich zwar im Detail, zeigen aber in eine ähnliche Richtung: «Der Anteil der Menschen, die den Krieg befürworten, ist bis heute relativ stabil geblieben – und das auf hohem Niveau», sagt Calum MacKenzie, Auslandredaktor von SRF und künftiger Korrespondent in Moskau.
In den meisten Umfragen schwankt die Zustimmungsrate für die «militärische Spezialoperation» zwischen 65 Prozent und teils über 70 Prozent. «Daraus kann man aber nicht automatisch schliessen, dass zwei Drittel der Russinnen und Russen überzeugte Kriegsbefürworter sind», relativiert MacKenzie.
Die Grenzen des Sagbaren
Denn: Nur wenige Menschen erklären sich bereit, überhaupt an solchen Umfragen teilzunehmen. Teilweise sind es nur fünf oder sechs von 100 angefragten Personen. Fürchten sich die Menschen also, ihre Meinung kundzutun – und womöglich als kreml-kritische Bürgerinnen und Bürger auf den Radar der Behörden zu kommen?
Auch dieser Schluss greift für MacKenzie zu kurz. Denn ein Teil der Befragten hat zwar durchaus solche Ängste. Russische Soziologinnen und Soziologen gehen aber davon aus, dass der grösste Teil der Bevölkerung schlicht keine eigene Meinung zum Krieg in der Ukraine hat.
Man trägt den Krieg mit – solange man nicht persönlich davon betroffen ist.
«Sie sind von der Politik total entfremdet und sorgen sich nur um ihren eigenen Alltag. Daher enthalten sie sich bei Umfragen oder geben einfach an, dass sie das Regime unterstützen», sagt MacKenzie. «Diese Menschen machen in Russland die Mehrheit aus – und sie tragen den Angriffskrieg mit, wenn auch nur passiv.»
Die wirkliche Haltung der russischen Bevölkerung zum Krieg zu ergründen, ist also schwierig. Die unabhängigen Meinungsforschenden versuchten es so: Sie fragten etwa, ob die Menschen Friedensverhandlungen oder einen neuen Grossangriff auf Kiew befürworten.
Ein beträchtlicher Teil an Konformisten stellt dem Kreml dabei einen Freifahrtschein für jedwedes Vorgehen aus. Aber: Bis zu 50 Prozent der Befragten befürworten bei dieser Fragestellung ein Ende der Kämpfe.
Insgesamt widerspiegeln die Umfragen für den Russland-Kenner auch die Apathie in der Bevölkerung: «Man trägt den Krieg mit – solange man nicht persönlich davon betroffen ist.»
Ein Jahr nach Kriegsausbruch hält sich die Begeisterung also in Grenzen, und es grassieren auch Zukunftsängste bei den Russinnen und Russen. «Aber die meisten Menschen können den Krieg noch ignorieren», schliesst MacKenzie. «Letztlich ermöglichen sie dem Regime so, diesen Krieg zu führen.»