Wiktor Schenderowitsch sitzt in einem Café am alten Arbat, der historischen Fussgängerzone von Moskau. Wie immer unrasiert, wache Augen, ein Lächeln auf den Lippen. Schenderowitsch ist ein Veteran der Kreml-Kritik.
In seiner Fernsehsendung «Kukly» («Puppen»), machte sich der Satiriker schon über Putin lustig, als der gerade erst an die Macht kam. Das war vor bald zwanzig Jahren.
Propaganda in eigener Sache
Jetzt, vor der Fussball-Weltmeisterschaft, ist Schenderowitsch wieder in der Rolle des Kritikers. «Solche Grossanlässe sind eine grossartige Gelegenheit für Propaganda in eigener Sache» sagt er.
Millionen Menschen auf der Welt interessierten sich für Fussball und liebten diesen Sport. Da sei ja klar, dass jeder Politiker versuche, sich damit in Verbindung zu bringen und vom Image des Fussballs zu profitieren. «Dabei gilt auch: Je widerlicher eine Staatsmacht ist, umso mehr benutzt sie den Sport.»
Sport füllt die grosse Lücke
Schenderowitschs These: in autoritären Ländern hat der Sport eine viel grössere Bedeutung als in Demokratien. In Europa etwa freuten sich die Fans natürlich auch, wenn einer ihrer Sportler schneller renne als alle anderen. Aber es gebe stets eine gewisse Distanz, denn man wisse, dass es nur um Sport gehe.
Doch in Russland sei der Sport viel mehr: «Der Sport ist ein Ersatz. Die Menschen sind arm, die Staatsmacht willkürlich, die Natur verschmutzt. Aber dafür siegen unsere Sportler!», sagt Schenderowitsch. Die Russen würden sich wie Kinder verhalten, denen man ein buntes Spielzeug in die Hand drückt, um sie abzulenken.
Putin liebt Grossanlässe
Was sicher stimmt: Die russische Regierung hat eine ausgeprägte Vorliebe für internationale Sportwettbewerbe. In die Olympischen Winterspiele 2014 investierte der Kreml umgerechnet rund 40 Milliarden Franken.
2016 fand die Eishockey-WM in Russland statt, dieses Jahr laufen die weltbesten Fussballer auf. In russischen Provinzstädten sind Sport-Arenen oft nicht nur die neusten, sondern auch die grössten Gebäude. Wie moderne Kathedralen dominieren die Stadien Stadtbilder landauf, landab.
Schon Hitler hat die Olympischen Spiele 1936 für Propaganda missbraucht.
Mit Politik hat so viel staatliche Sportbegeisterung nichts zu tun, wenn man Wladimir Putin glaubt: «Sport und Politik sind zwei verschiedene Dinge. Sport ist einzig und allein dazu da, Menschen zusammenzubringen», betont der russische Präsident stets.
Doch Schenderowitsch hält nichts davon. «Der grosse, internationale Sport ist immer politisch. Schon Hitler hat die Olympischen Spiele 1936 für Propaganda missbraucht.»
Auch jetzt würden die Menschen aus aller Welt nach Russland kommen, die Städte anschauen, hübsche Frauen, Fussball – ein grosses Fest sei sicher. «Aber dieses gastfreundliche Russland führt Krieg, und in den Gefängnissen dieses Landes sitzen politische Gefangene», sagt Schenderowitsch.
Ein geschöntes Bild der Realität
Russland ist nicht das Dritte Reich, auch nicht mehr die Sowjetunion. Russland ist ein ungleich viel freieres und offeneres Land. Dennoch zieht Schenderowitsch historische Parallelen.
So habe es Russland schon immer beherrscht, ein geschöntes Bild von der Realität zu vermitteln: «Europäische Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger oder Jean-Paul Sartre kamen in die Sowjetunion und waren begeistert. Dabei waren das eigentlich ja keine doofen Leute», so der Satiriker.
Europäische Intellektuelle kamen in die Sowjetunion und waren begeistert. Dabei waren sie ja keine doofen Leute»
Für Schenderowitsch ist die WM also vor allem eine Show. Ein autoritäres Regime zieht sich das Fussballtrikot an wie ein Wolf den Schafspelz. Millionen hat der Kreml investiert, um die Innenstädte der Austragungsorte aufzuhübschen. Neue Trottoirs, neue Parks, frisch gepflasterte Strassen. An manchen Orten werden ungepflegte Häuser gar mit riesigen Planen abgedeckt.
Doch diese Modernisierung und Verschönerung ist nur oberflächlich, glaubt der Kreml-Kritiker. Er sei sicher, dass eine neue Repressionswelle übers Land rollen wird, sobald das letzte Spiel abgepfiffen sei. Die WM wäre also nur eine kurze Verschnaufpause für die unterdrückte Opposition.
WM trotz getrübter Freude
Was also tun? Die WM boykottieren? Schenderowitsch kommt ins Nachdenken. «Ich bin für einen Boykott. Man sollte dem Kreml diese Werbeplattform nicht bieten. Aber ich verstehe auch, dass niemand einen Boykott wirklich durchziehen wird. Die Fans und die Spieler – sie werden alle kommen.»
Selbst Schenderowitsch, der Kritiker, wird das Turnier nicht einfach ignorieren. Denn er ist ein leidenschaftlicher Fussball-Fan: Das englische Team, die Franzosen, das seien gute Spieler. Aber auch Polen, Kroatien oder Belgien hätten Potenzial. Schenderowitsch kommt ins Fachsimpeln. Auch er werde natürlich die Spiele schauen – auch wenn die Freude daran nicht ungetrübt sein wird.