In diesem Sommer gibt es in der Ostsee eigentlich viel Grund zum Feiern. Die Inselgruppe Åland etwa zwischen Finnland und Schweden feiert den hundertsten Geburtstag als autonome Nation.
Im Rahmen eines Abkommens im damaligen Völkerbund – der Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen – konnte zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Krieg zwischen Finnland und Schweden um Åland verhindert werden. Daran erinnerte der finnische Präsident Sauli Niinistö vor kurzem bei einem Besuch in dem autonomen Gebiet.
Heute bilde Åland, so Niinistö, eine Brücke zwischen den beiden nordischen Staaten an der Ostsee. Er begrüsste beim Festakt auch den schwedischen König anlässlich dessen erstem Staatsbesuch auf dem Archipel, der aus über 6000 Inseln besteht.
Russland als Schutzmacht der Neutralität?
Der hundertjährige Völkerbundvertrag ordnete Åland aussenpolitisch Finnland zu, garantierte aber Schwedisch als einzige Amtssprache. Mit dem angestrebten Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands stellt sich nun aber die Frage, ob dieser Vertrag Bestand hat. Denn das Abkommen regelt auch die Demilitarisierung und die Neutralität Ålands.
Für uns ist unser spezieller Status als demilitarisiertes Gebiet zentral.
Und genau dieses sicherheitspolitische Element liegt der åländischen Ministerpräsidenten Veronica Thörnroos besonders am Herzen: «Für uns ist es sekundär, ob Finnland der Nato beitritt oder nicht, für uns ist unser spezieller Status als demilitarisiertes Gebiet zentral», sagt Thörnroos am Sitz der åländischen Regierung in der Hauptstadt Mariehamn.
Aber nicht nur die gut 30'000 Åländerinnen und Åländer selbst sind daran interessiert, dass sich durch den angestrebten Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nichts am Sonderstatus des eigenen Landes ändert. Auch Russland ist verpflichtet, die Neutralität Ålands zu überwachen. Das wird durch einen Zusatzvertrag geregelt.
«Dieses Abkommen aus dem Jahre 1940 zwischen Finnland und der Sowjetunion stellen wir nicht infrage», betont Regierungschefin Thörnroos.
Ein friedfertiger Nachbar Russlands
Moskau ist nicht nur nicht mit einer grossen diplomatischen Vertretung in Mariehamn vertreten, verteilt über den Archipel gibt es auch mehrere Liegenschaften, die im Besitz der russischen Regierung sind. Bisher waren die åländischen Beziehungen zu Russland durchaus gut, berichtet Petra Granholm vom åländischen Friedensinstitut. Sie weist darauf hin, dass Åland bei den anstehenden finnischen Beitrittsverhandlungen am Verhandlungstisch vertreten sein wird.
Bereits beim finnischen Beitritt zur Europäischen Union vor 25 Jahren gelang es Åland, den internationalen Sonderstatus des Archipels zu sichern. Dazu sagte dann die åländische Bevölkerung in einer eigenen Volksabstimmung auch ja. Bis heute gehört die autonome Region nicht zur EU-Zoll- und Steuerregion, was vor allem den åländischen Reedereien wegen des steuerbefreiten Handels zugutekommt.
Stalins letzter westlicher Aussenposten
Aber Russland verfolgt nicht nur die Diskussionen um die zukünftige Stellung Ålands. Beobachtet wird auch die fast 700 Kilometer südwestlich gelegene dänische Insel Bornholm.
Bornholm wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch ein Jahr lang durch sowjetische Truppen besetzt – bevor der damalige Kreml-Herrscher Stalin mit Dänemark einen Rückgabevertrag unterzeichnete. Und ausgehend von diesem Vertrag erhebt Russland bis heute ein Mitspracherecht auf der knapp 600 Quadratkilometer grossen Ostsee-Insel, sagt der dänische Sicherheitsexperte Torben Ørting Jørgensen.
«Russland glaubt bis heute, dass das Abkommen aus dem Jahre 1946 es Dänemark verbieten würde, Nato-Truppen aus anderen Ländern auf Bornholm zu beherbergen», sagt der frühere Marine-Admiral der dänischen Streitkräfte Torben Ørting Jørgensen – und hält fest: «Aber diese russische Sicht ist nicht die unsere». In den letzten Jahren hat Kopenhagen immer wieder ausländische Nato-Einheiten zu Übungen auf Bornholm eingeladen.
So markieren russische Militärjets und Kriegsschiffe auch in diesen Tagen immer wieder Präsenz, in dem sie unvermittelt ausserhalb und über Bornholm auftauchen. Sie verletzen damit dänische Souveränitätsrechte und machen deutlich, dass sich auch diese Insel in einer Grauzone zwischen Frieden und Krieg befindet.
Das neutrale Schweden wählt die Remilitarisierung
Beschaulich und idyllisch geht es zu im mittelalterlichen Stadtkern von Visby. Urlauberinnen und Urlauber aus ganz Europa schlendern durch die autofreien Gassen der Hauptstadt von Gotland. Gleichzeitig zeugen die intakten Stadtmauern und -tore davon, dass es sich – mitten in der Ostsee – um einen strategisch äusserst wichtigen Ort handelt.
Hier wechselten sich durch die Jahrhunderte dänische, deutsche, russische und schwedische Herrscher ab. Deshalb war die Insel Gotland immer ein Ort, für den sich auch Militärs interessieren, besonders in sicherheitspolitisch schwierigen Zeiten.
Wir können es einen neuen Kalten Krieg nennen, oder einen eisernen Vorhang. Tatsache ist: Russland führt jetzt Krieg gegen die Demokratie.
Eine solche Zeit sei auch jetzt wieder angebrochen, sagte der schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist bei einem Besuch kürzlich in Gotland: «Wir können es einen neuen Kalten Krieg nennen oder einen eisernen Vorhang. Tatsache ist: Russland führt jetzt Krieg gegen die Demokratie», erklärte Hultqvist, dessen sozialdemokratische schwedische Regierung sich im Mai für ein Beitrittsgesuch zur Verteidigungsallianz Nato durchrang. Dies in Abkehr der seit über zweihundert Jahren geltenden Neutralitätspolitik des grössten nordischen Landes.
Für die Insel Gotland – deren Fläche in etwa jener des Kantons Waadt entspricht – und wo heute gut 61'000 Menschen zu Hause sind, haben der russische Krieg gegen die Ukraine und das schwedische Nato-Beitrittsgesuch handfeste Folgen. In den vergangenen Wochen übten Nato-Soldaten aus verschiedenen Ländern auf Gotland.
Mehr Militär, weniger Gärten
Damit geht für Gotland eine vergleichsweise friedliche Epoche zu Ende, welche in den letzten dreissig Jahren aus dem früher eher unterentwickelten und peripheren Teil Schwedens, eine boomende Ferieninsel und wichtige Plattform internationaler Zusammenarbeit in der Ostsee machte. In der Hauptstadt Visby gibt es heute eine Vielzahl internationaler Organisationen zu den Themen Meinungsfreiheit und Demokratieförderung.
Und auch ausserhalb der Hauptstadt haben sich neben der ausgebauten Tourismus-Infrastruktur internationale Kooperationsprojekte angesiedelt, etwa im Bereich Landwirtschaft. Robert Hall ist der Leiter der Ecovillage-Kooperative im Süden der Insel, wo Menschen aus der ganzen Welt alternative Anbau- und Produktionsmethoden studieren.
«Uns wurde kürzlich mitgeteilt, dass wir hier keine weiteren Ausbauten machen dürfen», sagt Hall, und weist darauf hin, dass ein generelles Bauverbot für zivile Anlagen in grossen Teilen Gotlands erlassen worden ist.
Der Grund: Wenige Meter vom Ecovillage entfernt, gleich auf der anderen Seite der Überlandstrasse, beginnt die neue Sperrzone des schwedischen Militärs. Nachdem die Insel nach dem Ende des Kalten Krieges einige Jahrzehnte fast ganz ohne militärische Präsenz ausgekommen war, begann nach der russischen Annexion der Krim 2014 eine milliardenschwere Remilitarisierung der Insel. Der angestrebte schwedische Nato-Beitritt werde diese Entwicklung noch verstärken, befürchtet Robert Hall.
Gotland wird jetzt für militärische Zwecke und Interessen missbraucht.
«Gotland wird jetzt für militärische Zwecke und Interessen missbraucht», erklärt der Leiter des Ecovillage, der vor den Toren seines «Dorfes» in Sichtweite des neuen Militärgeländes ein riesiges Transparent mit dem Schriftzug «make gardens, not war» (Macht Gärten, keinen Krieg) aufgestellt hat.
Eine mögliche Ankunft der Nato brächte auch neue Mittel
Wenig Probleme mit der Remilitarisierung der Insel hat der gotländische Vize-Regierungschef Jesper Skalberg Karlsson. Er begrüsst eine Mitgliedschaft Schwedens in der Nato: «Wir müssen in Fragen der Sicherheit eng mit anderen Staaten zusammenarbeiten. Alleine sind wir zu schwach, um uns verteidigen zu können», sagt der konservative Politiker, der im Norden von Gotland aufgewachsen ist. Skalberg Karlsson sieht zudem grosse Vorteile für die Insel, angesichts der grossen Rüstungs-Investitionen, die jetzt nach Gotland fliessen: «Mit diesem Geld werden hier hunderte von neuen Arbeitsplätzen geschaffen, die nicht vom saisonbedingten Tourismus abhängig sind», sagt der Insel-Vize.
Gotland liegt auf halbem Weg zwischen der schwedischen Hauptstadt Stockholm und der russischen Hafenstadt Kaliningrad. Einmal mehr gerät nun also diese Insel ins Fadenkreuz verschiedenster geopolitischer Interessen. Für die Bewohnerinnen und Bewohner stehen nach Jahrzehnten des Friedens unruhige Zeiten bevor.