Ist Bachmut gefallen? Oder doch nicht? Russland und die Ukraine machen widersprüchliche Aussagen über die umkämpfte Stadt im Osten des Landes. Der Journalist Christian Wehrschütz schätzt die Lage ein; er war bis vor kurzem in Bachmut.
SRF News: Bachmut sei in russischen Händen, haben russische Streitkräfte berichtet. Warum gesteht die Ukraine diesen Verlust nicht ein?
Christian Wehrschütz: Das ist spekulativ. Wenn man um eine Stadt zehn Monate gekämpft hat und wenn die Ukraine in dieser Stadt relativ relevante Verluste hinnehmen musste, dann ist es sehr schwer einzugestehen, man habe die Stadt militärisch gesehen quasi verloren. Nach den Bildern, die ich gesehen habe, ist klar, dass die Russen im Westen der Stadt stehen. Dort gab es ein ukrainisches MiG-Denkmal. Und wenn man dort steht, dann hat man den Westen erreicht.
Was bedeutet es für Russland, dass man diese Stadt wahrscheinlich einnehmen konnte?
Das ist die viel interessantere Frage als die, ob man 95, 98 oder 93 Prozent kontrolliert. Einerseits ist es der einzige Erfolg, den Russland in den vergangenen Monaten überhaupt erzielt hat, denn es ist ja ein Stellungskrieg und kein Bewegungskrieg. Politisch wird das zwar getrommelt, als wäre es Stalingrad.
Russische Nationalisten und auch Putin-Kritiker sagen, es sei ein Pyrrhussieg.
Auf der anderen Seite sagen russische Nationalisten und Putin-Kritiker, die die Situation kennen, es sei ein Pyrrhussieg. Man habe so viele Menschen und Waffen für eine Stadt geopfert, dass dies Russland in anderen Frontabschnitten auf den Kopf fallen könnte. Man wird sehen, ob die Russen weiter in die Offensive gehen werden. Durch den Drohnenkrieg beider Seiten wissen wir, dass Vorbereitungshandlungen für grössere militärische Aktionen laufen.
Kann man beurteilen, wem dieser Kampf um Bachmut mehr geschadet hat?
Das könnten wir leichter sagen, wenn wir genaue Angaben oder einigermassen genaue Angaben über Opferzahlen hätten. Generell dürfte es so sein, dass die Wagner-Söldnertruppe viel grössere Opfer gebracht hat als der Verteidiger.
Das Zynische an der Schlacht ist, dass Russland erklärt, es habe Bachmut befreit. Das stimmt, von 70'000 Einwohnern ist keiner mehr dort und die Stadt ist eine Ruine.
Auf der anderen Seite man darf nicht vergessen, dass Söldner in der Statistik nicht zählen. Bei den Russen ist es so, dass die Zahlen der Gefallenen bisher keine wirkliche Rolle gespielt haben, weder politisch noch historisch. Das Zynische an der Schlacht ist, dass Russland nun erklärt, es habe Bachmut befreit. Das stimmt, von 70'000 Einwohnern ist keiner mehr dort und die Stadt ist eine Ruine. Das ist das fürchterliche Ergebnis von zehn Monaten Krieg.
Ist die Ausgangslage nun eine andere für die Frühlingsoffensive, von der oft die Rede ist?
Das glaube ich nicht. Das grosse Problem für die Ukraine ist zweifellos, dass es den Russen immer wieder gelingt, Luftverteidigung und Munitionslager zu zerstören, die möglicherweise als Aufmarschgebiet für die ukrainische Offensive dienen könnten.
Das zweite Problem der Ukraine ist, dass sie genau weiss, dass die Waffenbestände des Westens endlich sind, dass sie quasi nur eine Chance hat, mit ihrer Offensive erfolgreich zu sein. Daher auch das Zögern und das Warten. Die Russen haben sich massiv in diesen ganzen möglichen Angriffsgebieten eingegraben und daher ist das, was jetzt passiert, mit den Drohnen und Raketenangriffen auf Flugplätze, eine Vorbereitungshandlung von beiden Seiten auf diese Offensive.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.