Der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski ringt um Hilfe, fleht um Waffen und mehr Luftabwehrsysteme, damit sich die Ukraine gegen Russland verteidigen kann. In der Tat drohe der ukrainischen Armee an der Front die Luft auszugehen, beschreibt SRF-Korrespondent David Nauer die aktuelle Lage. Er ist gerade von einer Reportagereise aus der Ukraine zurückgekehrt.
SRF News: Wie steht es aktuell um die Ukraine?
David Nauer: Das Land ist derzeit fast so bedroht wie zu Beginn des russischen Grossangriffs Ende Februar und Anfang März 2022. Es fehlt der Ukraine an Munition – an Artillerie-Munition an der Front, aber auch an Munition für die Luftabwehrsysteme. Ausserdem verfügt die Ukraine bei weitem nicht über genügend Luftabwehr-Gerät, um zumindest die grösseren Städte einigermassen vor russischen Angriffen beschützen zu können. Diese Situation führt im Land selber zu einem Gefühl der relativ dringlichen Bedrohung. Und das ist überall spürbar.
Wie äussert sich dieses Gefühl?
Die Stadt Charkiw beispielsweise ist den Angriffen der Russen praktisch schutzlos ausgeliefert – in der zweitgrössten Stadt der Ukraine lebten vor dem Krieg rund 1.5 Millionen Menschen. Jetzt ist sie fast täglich Ziel von Bombardements. Ziel sind Elektrizitätswerke, aber auch zivile Wohnhäuser. Die Menschen müssen dort – und auch in anderen Städten – wieder damit umgehen, dass sie den nächsten Tag womöglich nicht erleben werden.
Wie ist die Situation in den Schützengräben, an der Front?
Bei einem Besuch einer ukrainischen Stellung unweit der Grenze zu Russland erzählte mir ein Soldat sehr eindrücklich, wie es ist, mit den verheerenden russischen Fliegerbomben angegriffen zu werden.
Von den beiden Männern ist nur eine einzige Hand übrig geblieben.
Auf seine Einheit sei eine solche Bombe abgeworfen worden, zwei seiner Kameraden seien getroffen worden. Von den beiden Männern blieb bloss eine einzige Hand übrig – sonst nichts. Solche Berichte und die Erfahrung der totalen Schutzlosigkeit vor diesen Bomben sind schon sehr eindrücklich – und erschütternd.
Sie waren seit 2022 mehrmals in der Ukraine – was ist jetzt anders als früher?
Vor einem Jahr beispielsweise war die Hoffnung auf die ukrainische Gegenoffensive gross – doch wie wir wissen, ist sie gescheitert. Seit vergangenem Herbst sind nun die Russen im Angriff. Sie beschiessen die ukrainischen Stellungen an der Front mit ungeheurer Feuerkraft – und rücken dann mit Infanterie vor.
Den Ukrainern fehlt nicht nur Munition – es fehlt ihnen auch an Soldaten.
Wenn das auch nur sehr langsam geht, sind die Russen doch in stetigem Vormarsch. Auf ukrainischer Seite fehlt ausserdem nicht bloss Munition, es fehlt auch an Soldaten. Denn jene Männer, die noch nicht in der Armee dienen, verspüren wenig Lust, in der aktuell schwierigen Situation in den Schützengraben zu gehen.
Und wie lange hält die Ukraine noch durch?
Das weiss niemand. Sicher ist: Die Ukrainer sind nach wie vor wild entschlossen, sich gegen die Russen zu wehren. Sie setzen dazu jene Mittel ein, über die sie verfügen. So werden derzeit sehr viele Drohnen produziert, die mit Granaten bestückt werden und an der Front dann russische Fahrzeuge, Panzer und Soldaten angreifen.
Wenn nicht sehr bald sehr viel westliche Militärhilfe kommt, dann steigt die Gefahr russischer Durchbrüche.
Die Ukrainer versuchen alles, um durchzuhalten. Doch es besteht die akute Gefahr, dass die Front irgendwo einbricht und die Russen tatsächlich vorwärts marschieren können. Und wenn nicht sehr bald sehr viel westliche Militärhilfe in die Ukraine kommt, dann steigt die Gefahr russischer Durchbrüche.
Das Gespräch führte Romana Kayser.
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