- Ramush Haradinaj wurde am Mittwochabend auf dem Flughafen Basel-Mulhouse verhaftet – aufgrund eines internationalen, von Serbien ausgestellten Haftbefehls.
- Haradinaj bleibt vorläufig in Haft.
- Haradinaj war 2004 Kosovos erster Regierungschef, legte sein Amt aber nieder, um sich Kriegsverbrecher-Vorwürfen in Den Haag zu stellen.
- 2008 und 2012 wurde er von den Anschuldigungen im Zusammenhang als Chef der Kosovo-Befreiungsarmee UCK freigesprochen.
- Die Verhaftung belaste die sowieso schon desolaten Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo weiter, sagt der frühere Balkan-Korrespondent von SRF, Walter Müller.
SRF News: Sie waren nicht überrascht, als Sie von der Festnahme Haradinajs auf dem Flughafen Basel-Mulhouse erfahren haben. Weshalb?
Walter Müller: Serbien hat schon vor längerer Zeit internationale Haftbefehle gegen mehrere ehemalige UCK-Kämpfer aus Kosovo erlassen. Darunter ist Haradinaj, der heute Chef einer kosovarischen Oppositionspartei ist. Er wurde bereits 2015 in Slowenien verhaftet, nach zwei Tagen aber wieder freigelassen. Haradinaj hat also gewusst, dass ihm bei einer Grenzüberquerung wieder die Festnahme droht.
Wie reagieren die Kosovo-Albaner auf diese Festnahme?
Sie sind wütend und frustriert. Das kosovarische Aussenministerium in Pristina bezeichnet den serbischen Haftbefehl aus dem Jahr 2004 und die jetzige Verhaftung in Frankreich als «völlig inakzeptabel». Präsident Hashim Thaci schreibt auf Facebook, er sei stolz auf den Kampf der UCK Ende der 1990er-Jahre gegen die Repression des damaligen serbischen Milosevic-Regimes. Thaci war übrigens ein Kampfgefährte Haradinajs. Die serbischen Haftbefehle sorgen immer wieder für Aufregung. Auch bosnische Politiker sind schon verhaftet worden, wurden aber stets wieder freigelassen.
Auf den Freisprüchen in den Haag liegt ein dunkler Schatten: Zeugen wurden entweder umgebracht, oder wollten plötzlich nicht mehr aussagen.
Die Vorwürfe wegen Verbrechen im Kosovo-Krieg sind nicht neu. Haradinaj stand deswegen vor dem UNO-Kriegsverbrecher-Tribunal, wurde aber 2008 und 2012 freigesprochen. Warum sind diese Vorwürfe noch immer auf dem Tisch?
Laut dem serbischen Staatsanwalt für Kriegsverbrechen soll der Ex-Premier Kosovos für den Tod von 60 Menschen verantwortlich sein. Es ist nicht ganz klar, ob diese von der serbischen Seite vorgebrachten Fälle vom Haager Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien abgehandelt worden sind. Zudem liegt auf den Freisprüchen in den Haag ein dunkler Schatten: Haradinaj wurde unter anderem mangels Beweisen freigesprochen, nachdem die Zeugen entweder umgebracht wurden oder plötzlich nicht mehr gegen ihn aussagen wollten. Unklar ist, ob Serbien nun möglicherweise neue Beweise gegen ihn hat. Doch der eigentliche Grund für das serbische Vorgehen liegt tiefer: Der Kosovokrieg war aus serbischer Sicht ein Kampf gegen Terroristen. Für die UCK und ihre Kosovo-Kämpfer war er jedoch ein Befreiungskampf gegen die Unterdrückung durch die Serben. Serbien will Kosovo deshalb nicht als unabhängigen Staat anerkennen und zudem beweisen, dass damals nicht nur Serben die Bösen waren, sondern auch Kosovo-Albaner.
Die Verhaftung Haradinajs kommt in einem denkbar ungünstigen Moment.
Wie gross ist die Chance, dass Haradinaj jetzt ausgeliefert wird und Serbien ihn strafrechtlich verfolgen kann?
Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit diesen internationalen Haftbefehlen Serbiens halte ich die Wahrscheinlichkeit für gering. Die französische Justiz will nun prüfen, ob die im Haftbefehl aufgelisteten Vorwürfe gegen Haradinaj bereits vom Haager Tribunal behandelt worden sind. Wenn dem so ist, kommt Haradinaj frei.
Was bedeutet die Festnahme Haradinajs für die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo?
Tatsächlich sind die Beziehungen der beiden Nachbarn bereits jetzt auf einem katastrophalen Tiefpunkt. Die von der EU moderierten Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina kommen nicht vom Fleck. Sie sollten eigentlich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten normalisieren. Nach wie vor ist man davon aber weit entfernt. Nun wollen Serbiens Präsident Tomislav Nikolic und Regierungschef Aleksander Vucic ihre serbischen Bürger in Kosovo an der orthodoxen Weihnacht am kommenden Wochenende besuchen. Vor dem Hintergrund von Haradinajs Verhaftung wird das für weitere Aufregung sorgen. Hinzu kommt, dass in Kosovo das Internationale Sondergericht für UCK-Kriegsverbrechen 1998/99 in Kürze seine Arbeit aufnehmen wird. Dabei ist noch völlig unklar – und es wird mit Spannung erwartet –, wer und vor allem welche kosovarischen Politiker vom Sondergericht angeklagt werden. Die Unruhe ist also sowieso sehr gross; die Verhaftung Haradinajs kommt in einem denkbar ungünstigen Moment.
Das Gespräch führte Tina Herren