Noch sind zahlreiche Fragen zum Attentat von Wien unbeantwortet. Fest steht, dass der Attentäter ein Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln ist – ein Anhänger der radikalislamistischen Terrormiliz IS. Nun zeige sich, wie stark diese Ideologie unter jungen Islamisten in Europa verankert sei, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg.
SRF News: Ein IS-Anschlag in Wien – hat Sie das überrascht?
Guido Steinberg: Zum jetzigen Zeitpunkt ja, weil die Dschihadisten in den letzten Jahren in Europa eher schwach waren. Die letzten grossen Anschläge vor dieser kleinen Welle liegen doch schon drei Jahre zurück. Dass es Wien war, hat mich nicht überrascht, denn Österreich hat eine starke dschihadistische Szene. Es gibt viele Syrien-Ausreisen und viele Hinweise darauf, dass da zornige junge Männer bereit sein könnten, Attentate in der Hauptstadt zu verüben.
Sie sprechen von einer «kleinen Welle» nach den Anschlägen in Nizza und Paris. Stehen die Ereignisse in einem Zusammenhang?
Das nehme ich an. Auch wenn es keine Hinweise auf eine organisatorische oder strukturelle Verbindung gibt. Aber es ist auffällig, dass die Anschläge im September in Paris im Zusammenhang mit den Charlie-Hebdo-Karikaturen einsetzten. Diese frühen Anschläge haben anscheinend eine kleine Welle ausgelöst. Weniger die Karikaturen selbst, sondern wahrscheinlich eher die Tat. Da hat ein junger Mann gezeigt, dass er sich gegen die Christen und Europäer wehrt. Das hat andere inspiriert.
Sind die Täter von ihrer Biografie und ihren Profilen her nicht sehr unterschiedlich?
Ja, das ist ganz auffällig. Zuerst ein Pakistani, dann ein Tschetschene, ein Tunesier. In Dresden war es wohl ein Syrer und jetzt ein in Wien geborener Albanisch-Stämmiger. Unterschiedlicher könnten junge Männer nicht sein, zumindest was ihre Herkunft angeht. Das zeigt, dass es kein gemeinsames soziales Profil gibt, sondern das wahrscheinlich die Ideologie die Ursache ist.
Wie sieht die Verbindung unter diesen Leuten aus?
Die Verbindung liegt in der gemeinsamen Idee. Der IS als Organisation oder auch Al Qaida sind stark geschwächt und können seit 2017 in Europa keine Anschläge mehr organisieren oder auch nur anleiten. Aber sie haben ihre Ideologie hinterlassen. Es zeigt sich jetzt, wie stark diese Ideologie unter jungen Islamisten in Europa verankert ist. Es ist davon auszugehen, dass nur wenige bereit sind, ihr Leben oder ihre Freiheit zu opfern. Aber viele andere denken ebenso.
Es zeigt sich jetzt, wie stark diese Ideologie unter jungen Islamisten in Europa verankert ist.
Bekommt Europa also die Hinterlassenschaft des IS zu spüren?
Es ist tatsächlich eine Hinterlassenschaft. Der IS selbst ist damit beschäftigt, in Irak, Syrien und Afghanistan zu überleben. Er ist dort an einigen Stellen noch sehr stark. Aber er hat diese Verbindung, die zwischen 2014 und 2017 mit den europäischen Freiwilligen bestand, weitgehend verloren. Deswegen handeln diese jetzt auf eigene Faust. Die grosse Überraschung ist, dass sie nach relativ ruhigen drei Jahren in doch so grosser Zahl zurückkommen.
Hätten die europäischen Staaten mehr tun müssen, um solche Anschläge zu verhindern?
Ich denke schon. Ein Problem ist die sehr liberale Einwanderungspolitik der letzten Jahre. Ein anderes Problem ist die zunehmende Entfremdung von jungen Muslimen von der Mehrheitsgesellschaft in vielen Vierteln der grossen Städte. Allerdings werden da die grossen Fragen europäischer Politik angesprochen. Einfache Antworten gibt es nicht.
Ein Problem ist die sehr liberale Einwanderungspolitik, ein anderes die Entfremdung der jungen Muslime von der Mehrheitsgesellschaft.
Das grosse Problem an den Einzeltätern ist, dass sie nur sehr schwer gefasst werden können. Wenn sie mit einer grösseren Organisation kommunizieren, kann man sie vielleicht eher entdecken. Die grosse Aufgabe der nächsten Jahre ist aber, zu schauen, wie wir überhaupt mit Muslimen in unseren Ländern umgehen und ob es da neue Wege braucht.
Braucht es eine bessere Integration in die Gesellschaft?
Das ist das eine. Es geht aber auch um den Umgang mit Problemfällen und wie man sicherstellt, dass die vielen gefährlichen jungen Männer nicht gefährlich werden können, während man gleichzeitig so liberal bleibt wie bisher. Das wird sehr schwierig. Die ersten Forderungen aus Frankreich nach einer Art Internierungslager für Terrorverdächtige weisen in die Richtung, in die es in den nächsten Jahren gehen könnte.
Die Forderungen aus Frankreich nach einer Art Internierungslager für Terrorverdächtige weisen in die Richtung, in die es in den nächsten Jahren gehen könnte.
Ist in der nächsten Zeit mit weiteren Anschlägen zu rechnen?
Zumindest besteht die Gefahr, denn wir haben es tatsächlich mit einer kleinen Welle zu tun. Nichts spricht dagegen, dass sie vielleicht fortgesetzt wird. Die Sicherheitsbehörden werden den Druck auf die Szenen erhöhen. Die Hoffnung ist, dass dieser Druck die Welle beendet.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.