Für über 172'000 Schülerinnen und Schüler in Jordanien sind diese Tage eine Qual. Die Matura-Prüfungen haben sie hinter sich, aber viele befürchten, dass sie nicht bestanden haben. Grund für die Angst: eine aussergewöhnlich schwere Physikprüfung. Selbst hervorragende Schüler wie der 18-jährige Nabil Alazzeh aus Amman waren überfordert.
«Als ich die Prüfungsfragen durchlas, sah ich sofort, dass sie sehr schwer waren. Einen Teil des Prüfungsstoffs hatten wir in der Schule gar nicht behandelt», sagt Nabil.
«Wir waren ja nie im Unterricht, sondern die ganze Zeit wegen Corona online. Und da kamen wir nicht so weit, wie es diese Prüfung verlangte», sagt er. «Uns fehlte alles für diese Prüfung – viele haben sicher nicht die erhoffte Note erreicht,» betont der Maturand.
«In unserem ganzen geliebten Land flossen Tränen»
Ahmad Momani ist seit 2011 Physiklehrer an einem jordanischen Gymnasium. So etwas wie diese Physik-Maturaprüfung habe er noch nie gesehen, sagt er. «Die Schüler hatten laut Berechnung des Bildungsministeriums maximal vier Minuten Zeit, um die erste Frage zu beantworten. Sie brauchten aber doppelt so viel Zeit.» Zur Beantwortung anderer Fragen hatten sie die schulischen Grundlagen nicht. Die Maturandinnen und Maturanden kamen erst recht unter Druck.
«Als die Schüler bei den Fragen 18 bis 20 angelangt waren, kamen die Aufseher und sagten, die Zeit sei abgelaufen. Nach zweieinhalb Stunden hatten sie damit noch nicht einmal die Hälfte aller Fragen beantwortet.» «In unserem ganzen geliebten Land flossen die Tränen der Schülerinnen und Schüler», sagt Physiklehrer Ahmad Momani.
Das jordanische Bildungsministerium habe angesichts der schwierigen Lernumstände in der Coronakrise eine einfache bis mittelschwere Maturaprüfung angekündigt. Zwar habe der Bildungsminister öffentlich angekündigt, er werde die Benotung dieser Prüfungen persönlich überwachen, aber bis jetzt habe dieser noch nicht bekanntgegeben, was er zu tun gedenke.
Wenn die Zukunft von der Prüfungsnote abhängt
Bei den Maturaprüfungen in Jordanien geht es nicht nur darum, sie zu bestehen: Die Note entscheidet, zu welchem Studium junge Menschen zugelassen werden. Demonstrationen, Wut auf den sozialen Medien, Tränen vor laufenden Kameras; dass der Aufruhr über eine Physikprüfung so gross ist, liegt auch an der angespannten Stimmung in Jordanien.
Seit dem Beginn der Coronakrise finden mehr als 50 Prozent der Jungen keinen Job. Auch ihre Eltern leiden wirtschaftlich: Die ständigen Lockdowns und Ausgangssperren haben ganze Wirtschaftszweige verwüstet. Die Wut auf die Regierung ist entsprechend gross. Seit Monaten gibt es Proteste – und ein Putschversuch gegen den König machte gar international Schlagzeilen.
Der 19-jährige Nabil möchte Programmierer werden. Dafür braucht er ein sehr gutes Maturazeugnis. Darum muss auch er, ein guter Physikschüler, zittern. «Am 15. August weiss ich das Resultat meiner Maturaprüfung, so Gott will», sagt der 18-Jährige. Bis dahin hält ganz Jordanien den Atem an.