Wenn man die Rolltreppe an der Metro-Station «Diagonal» hochkommt, sieht auf den ersten Blick alles aus wie immer: Passanten eilen vorüber, die Schaufenster der Edelboutiquen sind blitzblank. Aber dann, auf den zweiten Blick: eine gelbe Schleife, das Symbol der Separatisten. Dort, neben dem Fussgängerstreifen, ein Schriftzug: «Raus mit den Kolonialherren.»
Es braucht einiges an Fantasie, um diese Überbleibsel mit den Bildern der letzten Wochen zusammenzubringen: Mit den brennenden Autos, den hunderten Verletzten, der halben Million Menschen, die auf dieser Strasse marschierten – dem Passeig de Gràcia im Zentrum von Barcelona.
In den Seitenstrassen werden die Zeichen deutlicher: Vor dem Gebäude, in dem die Delegation der spanischen Zentralregierung untergebracht ist, stehen fünf Kastenwagen mit schwer bewaffneten Polizisten. Die freundlich lächeln, wenn man fragt, ob man ein Foto machen dürfe – «Aber natürlich, gar kein Problem» – als wäre alles in Ordnung.
Noch etwas weiter, an der Plaça d' Urquinaona, die zerschlagenen, zugeklebten Schaufenster und die herausgerissenen Pflastersteine. Die Ladenbesitzerin, der Kellner im Restaurant – darüber reden, was passiert ist, möchte hier fast niemand. Ausser Miguel.
Miguel ist Concierge und verbringt seine Tage vor dem Eingang eines der Geschäftshäuser, seit 15 Jahren. Er scrollt durch die Fotos auf seinem Handy und schüttelt ungläubig den Kopf: «Schau, wie das hier ausgesehen hat vor drei Wochen.»
Die Demonstranten hatten eine brennende Barrikade errichtet, aus den Sonnenschirmen und Terrassenmöbeln des Restaurants nebenan. Wenigstens sei keiner der Mitarbeiter verletzt worden. Aber was hier passiert sei, sei richtig krass.
Kiko Llaneras drückt sich etwas anders aus – aber im Kern meint er dasselbe. Er arbeitet für «El País», die grosse spanische Tageszeitung – und ist quasi deren Hausstatistiker, der Mann für Zahlen und Analysen.
Die Urteile gegen die katalanischen Separatistenführer und die darauffolgenden Proteste hätten zwei Effekte, sagt Llaneras. Erstens: In Katalonien dürften die separatistischen Parteien deutlich zulegen am Sonntag. Zweitens: Im Rest von Spanien seien es die rechten Parteien, die vom «Katalonien-Effekt» profitierten – insbesondere die Rechtsaussen-Partei Vox.
An der zentralen Rolle von Vox hat Enric Juliana keine Zweifel. Er ist stellvertretender Chefredaktor von «La Vanguardia», der grössten katalanischen Tageszeitung. Wenn man nach den interessanten, klügsten Kommentatoren fragt zum Katalonien-Konflikt, fällt oft sein Name.
Katalonien lässt niemanden kalt.
Die Sozialisten, die Sieger der Wahlen im April, und ihr Chef, Premier Pedro Sánchez, hätten einen Fehler begangen. Statt sich zusammenzuraufen und mit «Unidos Podemos», der Protestpartei, die noch weiter links steht, eine Koalition zu bilden, habe man es darauf ankommen lassen: Neuwahlen, drei Wochen nach den Urteilen gegen die Separatistenführer, eine Wahlkampagne, parallel zu den Protesten.
«Katalonien lässt niemanden kalt», sagt Juliana; das Problem habe eine ganz eigene Temperatur. Abzuschätzen, welchen Effekt die Wut in einer solchen Konfliktsituation habe, sei so gut wie unmöglich. Die Sozialisten seien ein enormes Risiko eingegangen.
Wenn Spanien etwas nötig hätte im Moment, wäre es Stabilität. Eine funktionierende Regierung. Ein Ausweg aus der Blockade. Doch dass die Wahlen diesen Weg weisen werden, ist sehr unwahrscheinlich.