«Wieder eine neue Provokation von Hashim Thaçi!» Das Interview des kosovarischen Präidenten mit SRF vergangene Woche warf hohe Wellen in den serbischen Medien. Thaçi hatte Belgrad am Tag zuvor «die Hauptstadt der Probleme» genannt. Eine Spitze gegen den Prestigegewinn des neu gewählten Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić.
Diese Episode ist exemplarisch für die bissigen Töne zwischen den Hauptstädten der Region. Noch sind die lauten Wortwechsel zwischen Hashim Thaçi und Aleksandar Vučić wohl Theaterdonner fürs Heimpublikum. Doch die Nachkriegsordnung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens ist in Frage gestellt. Die eingefrorenen Konflikte der neunziger Jahre brechen wieder auf.
Stabilität um jeden Preis
Dabei unterstützte der Westen die Wahl Thaçis und Vučićs mit Wort und Tat: So begab sich der US-Botschafter vor gut einem Jahr höchst persönlich ins kosovarische Parlament, um den ehemaligen Chef der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) ins Amt zu nicken. Die Opposition hatte zuvor heftig gegen Hashim Thaçi protestiert. Er sei korrupt und kriminell. Nach der Wahl herrschte in Prishtina gespenstische Stille, überall standen Polizeikräfte, das Feuerwerk für Thaçi stieg praktisch ohne Publikum.
Ähnlichen Rückenwind genoss Aleksandar Vučić beim Einzug in den serbischen Präsidentenpalast: Mitten im Wahlkampf empfing ihn Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Vučić pries sich als Garant der Stabilität auf dem Balkan, Berlin und Brüssel übernahmen seinen Werbespot, die Wahl gelang bereits im ersten Wahlgang mit 55 Prozent. Seither protestiert die Jugend auf den Strassen Belgrads und anderer Städte «gegen die Diktatur».
Altes Doppelspiel Serbiens
Aleksandar Vučić ist heute die dominierende Figur auf dem Balkan. Serbien hat noch immer verhältnismässig gute Chancen auf eine EU-Vollmitgliedschaft. Die serbische Wirtschaft macht Fortschritte. Deshalb übernimmt Vučić den europäischen Imperativ der Normalisierung und Zusammenarbeit in der Region. Dank vordergründiger Versöhnung gewinnt er zunehmend Einfluss auf die serbische Bevölkerung in Bosnien und auch in Kosovo.
Ausserdem versucht sich Vučić im alten Doppelspiel des ehemaligen Jugoslawiens zwischen West und Ost: So schloss er kurz nach den Wahlen einen Waffendeal mit Russland ab und preist die panslawische Bruderschaft mit Putin. Die weltpolitische Unsicherheit nach der Wahl Donald Trumps – und die Schwäche der EU haben den Einfluss des Westens auf die Region geschwächt.
Glanz der europäischen Idee verblasst
Russland und die Türkei sind dabei, dieses Vakuum zu füllen. Ihre Investitionen sind überdies nicht an lästige Forderungen nach mehr Demokratie geknüpft. Der Balkan ist wieder Schauplatz des geopolitischen Ringens. Wie schon oft in der Geschichte. Nach den Kriegen in den neunziger Jahren sollte die euro-atlantische Integration nachhaltigen Frieden bringen.
Doch der Umgang der EU-Troika mit Griechenland uns die Flüchtlingskrise haben auch bei pro-westlichen Bürgern der Region Zweifel an der Glaubwürdigkeit der europäischen Idee ausgelöst. Wirtschaftliche Reformen schienen wichtiger zu sein als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Das Gespenst von Grossalbanien
Umstrittene Urteile wie etwa die Freisprüche für den kroatischen General Ante Gotovina oder den serbischen Hetzer Voijslav Šešelj haben die Glaubwürdigkeit des Jugoslawien-Tribunals von Den Haag arg geschwächt. So hat historischer Revisionismus Konjunktur: Regierungen und Medien basteln sich zunehmend wieder ihre eigene Version der Geschichte.
Kürzlich hat eine Äusserung des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama – alles andere als ein Nationalist, er wolle eine Union aller Albaner nicht mehr ausschliessen, für Furore gesorgt. Kosovo-Präsident Thaçi doppelte sogleich nach – und Vučić reagierte mit Verweis auf seine grossserbische Vergangenheit: Würde er eine Vereinigung aller Serben fordern, hinge er sofort an einem Fahnenmast in Brüssel.
Warnung nach Brüssel
Die Debatte um eine Vereinigung der albanischen Gebiete auf dem Balkan wirkt bis in die Schweiz, wo eine besonders grosse Diaspora aus dem ehemaligen Jugoslawien lebt. Auf Facebook-Profilen von Schweizern mit kosovo-albanischer Herkunft prangen seither die Umrisse von Grossalbanien. Serbische Schweizer protestieren in den sozialen Medien dagegen. Das Thema wird diskutiert in der S-Bahn, auf dem Pausenplatz und im Fussball-Training. Die Schweiz ist aufs engste verbunden mit dem Balkan.
Umso entscheidender ist Ramas Nachsatz: Denn sein Gedankenspiel war an den Westen adressiert. Solche Unionen auf dem Balkan könnten sich bilden, falls die EU-Perspektive weiter in die Ferne rücke. Er würde aber den EU-Beitritt weiterhin vorziehen. Deutlicher kann die schwindende «soft power» der EU nicht formuliert werden. Rama hält Brüssel den Spiegel vor. Jahrelang hofften die Menschen in Südosteuropa, gleichberechtigte Bürger der Europäischen Union zu werden – inklusive Zugang zum Arbeitsmarkt.
Perspektiven statt Hohlformeln
Doch die Signale der EU-Regierungschefs klingen anders: Vielleicht noch Serbien, dann ist Schluss mit Erweiterung. Plötzlich entfalten die Grenzen, die bei einer EU-Mitgliedschaft allmählich an Bedeutung verloren hätten, wieder ihre volle Kraft. Das macht die Balkan-Politiker zunehmend nervös. Die Realpolitik entlarvt die Hohlformeln über eine bessere Zukunft dank einschneidender Reformen zunehmend. So können die Kosovaren beispielsweise noch immer nicht ohne Visum reisen.
Dies hat Sprengpotenzial. Trotzdem übergeht der Westen die Stimme der protestierenden Zivilgesellschaft. Denn: Der Balkan ist nicht der zurückgebliebene Hinterhof Europas. Die Grossstadt-Szenen von Künstlern, Intellektuellen und politisch aktiven Menschen in Belgrad, Pristina oder Tirana können Zürich und Berlin durchaus herausfordern. Kulturell und auch gesellschaftlich. Echte Perspektiven und Partnerschaften auf Augenhöhe führten zu Alternativen zur Herrschaft der starken Männer – und letztlich zu nachhaltigerer Stabilität.