Sieben Monate lang musste Teresa Delgado auf ihr Visum und ihre Arbeitserlaubnis warten, bis sie endlich nach Chile ziehen und mit ihrer Berichterstattung beginnen konnte. Die normalerweise gut funktionierende Bürokratie in Chile sei aufgrund der Pandemie und durch ein neues System für Visaanträge stark in Verzug geraten, erklärt die SRF-Korrespondentin.
Doch Teresa Delgado hielt an Chile fest: «Das ist ein enorm vielfältiges und interessantes Land und ich habe mich bewusst dafür entschieden.» Denn in Chile würde man im Kleinen alles finden, was Südamerika im Grossen beschäftigt: grosse Ungleichheit, tiefe Armut, soziale Unruhen, starke feministische Bewegungen und vieles mehr.
So vielseitig wie das Land empfindet Delgado auch die Hauptstadt Santiago de Chile, wo die Korrespondentin wohnt und arbeitet. «Santiago ist eine unglaublich kontrastreiche Stadt.» Alles treffe hier aufeinander: protzige Bauten auf selbstgebaute Lehmhäuser, amerikanische Kultureinflüsse auf deutsche Werbeplakate.
Den grössten Kontrast sieht Delgado aber klar bei der Einkommensschere. In Bezug auf die finanziellen Verhältnisse der Bevölkerung erlebe sie zwei Chiles: ein reiches und ein armes Chile. Das Land bestehe aus einem Zweiklassensystem, das Menschen mit genügend Einkommen klar bevorteilt. «Alles kostet, nichts ist gratis. Der Markt bestimmt in diesem stark kapitalistischen Land einfach alles.» Delgado schätzt, dass es rund 100 bis 150 Familien sind, die in Chile die Politik und Wirtschaft lenken und den Reichtum und die Macht im Land unter sich ausmachen.
Das Leben in Chile wird teurer
Obwohl Chile wirtschaftlich gesehen zu den bessergestellten Ländern Lateinamerikas zählt, ist das Geld in vielen Gesellschaftsschichten doch äusserst knapp. Im Alltag äussere sich das teilweise auch auf kuriose Art und Weise, so Delgado: «In Chile gibt es beispielsweise unzählige Schnäppchenjäger. Menschen, die ständig damit beschäftigt sind, in den Zeitungen nachzuschauen, wo sie mit Rabatten oder Coupons etwas einsparen können.»
Inzwischen fahren immer mehr Leute den weiten Weg über die Anden nach Argentinien, um dort günstig einkaufen zu gehen.
Das Leben in Chile ist teuer, nicht zuletzt auch wegen der Inflation. Viele können sich die regulären Preise daher kaum mehr leisten. «Inzwischen fahren immer mehr Leute den weiten Weg über die Anden nach Argentinien, um dort günstig einkaufen zu gehen», weiss Delgado.
Wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas ist auch in Chile der informelle Sektor ein grosses Problem: Ein grosser Teil der chilenischen Bevölkerung arbeitet illegal und lebt von der Hand in den Mund. «Das sind Millionen Menschen, die völlig auf sich allein gestellt sind, keine Sozialleistungen erhalten und über keinerlei medizinische Absicherungen verfügen», so Delgado.
Spätestens seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs herrscht in dieser Branche Goldgräberstimmung.
Wirtschaftlichen Profit schlägt Chile indessen aus dem Minen-Geschäft. Der Handel mit Kupfer und Seltenen Erden erlebt laut der SRF-Korrespondentin gerade einen regelrechten Boom: «Spätestens seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs herrscht in dieser Branche Goldgräberstimmung.»
Zwischen Demokratie und Diktatur
Als Südamerika-Korrespondentin berichtet Delgado nicht nur über Chile, sondern über alle lateinamerikanischen Länder. Ihr Augenmerk richtet sich deshalb auch auf grundsätzliche Entwicklungen auf dem Kontinent. Etwa auf die Veränderung der Demokratie: Südamerika ist neben Europa und Nordamerika eine der grössten demokratischen Regionen der Welt.
Gleichzeitig ist die Demokratie nirgends stärker auf dem Rückmarsch als dort, wie der jüngste Demokratie-Index der britischen Economist-Group zeigt. Laut Delgado gibt es immer mehr Hybrid-Staaten; also Staaten mit demokratischer Verfassung, die aber auch autoritäre Züge aufweisen. Waren es 2008 noch drei Staaten, sind es mittlerweile bereits deren acht.
Teresa Delgado verfolgt diese Entwicklung wachsam und kritisch, auch wenn es in gewissen Ländern schwierig geworden ist, als Journalistin überhaupt noch an gesicherte Informationen zu kommen. Beispielsweise in Venezuela.
Die Menschen hungern und haben auch deshalb kaum noch Kraft, um sich gegen Maduro aufzulehnen.
Dort hat Staatspräsident Nicolás Maduro das Land mit seinem autoritären Regierungsstil im Verlauf der letzten zehn Jahre in eine tiefe wirtschaftliche Krise gestürzt.
«Die Menschen hungern und haben auch deshalb kaum noch Kraft, um sich gegen Maduro aufzulehnen», erklärt Delgado. Ganze sieben Millionen Venezolaner und Venezolanerinnen hätten deshalb in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen, um dem politischen Chaos und dem Hunger zu entkommen. Das sind mehr Menschen, als aus der Ukraine oder aus Syrien geflohen sind. Was sich in Venezuela derzeit tatsächlich abspiele, sei aber schwierig einzuschätzen, denn viele Informationen würden nur über Umwege zu ihr gelangen.
Einzigartige Sitten
Dass Südamerika mehr zu bieten hat als nur Krisen und Kriminalität, spiegelt sich vor allem in der kulturellen Vielfalt der Region und ihren einzigartigen Sitten und Bräuchen wider. In Chile beispielsweise in Form der «Cueca», einem Paartanz, der jedes Jahr vor allem bei den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag am 18. September getanzt wird. «Überall im Land wird dann getanzt», erklärt Teresa Delgado, «was einen etwas überraschen mag, bei den sonst eher zurückhaltenden und tanzmüden Chileninnen und Chilenen.»
Ein weiteres Merkmal Südamerikas sind die traditionellen Heilmittel und Medikamente, die aus den reichhaltigen Ressourcen des Amazonasgebietes gewonnen werden. 70'000 Pflanzenarten werden auf dem Kontinent für medizinische und anderweitige Zwecke verwendet. In Chile allerdings setzte man in dieser Hinsicht doch eher auf die europäische Medizin, sagt Delgado. Denn trotz der grossen geografischen Distanz zu Europa sei Chile den europäischen Lebensweisen doch in vielen Belangen näher, als man vermuten möchte.