Vom Küstendorf Chein Khar Li ist nichts mehr übrig. 37 Menschen sind tot. Alle 671 Häuser sind verbrannt. Übrig sind nur noch die Grundrisse zwischen verkohlten Baumstrünken. «Sie kamen ins Dorf mit Gewehren, Raketenwerfern und Benzinkanistern», erzählt der 19-jährige Imran in einem der Flüchtlingscamps in Bangladesch.
Mit seiner Schwester Hasena lebt Imran in einer Bambushütte – zusammen mit fast einer Million Rohingya. Ihre Eltern haben die «Säuberungsaktionen» des burmesischen Militärs nicht überlebt. Hasenas Mann auch nicht. «Sie haben ihn erschossen und verbrannt», sagt Hasena. Zwei Wochen habe die Flucht der Geschwister durch Wald, Felder, über Berge und Flüsse nach Bangladesch gedauert.
«Säuberungsaktionen» von Armee, Polizei und Buddhisten
Was im August 2017 in Burma geschah, ist inzwischen gut dokumentiert. Am 25. August hat die Rebellengruppe Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) im Rakhine-Staat über 20 Polizeiposten angegriffen. Die Reaktion der burmesischen Sicherheitskräfte war brutal. In «Säuberungsaktionen» sind Armee, Polizei und buddhistische Zivilisten brandschatzend durch die Dörfer gezogen. Gegen 400 Dörfer sind komplett oder teilweise abgebrannt.
So wie Chein Khar Li. Amnesty International erwähnt das Dorf in einem Bericht. Im September präsentierte der UNO-Menschenrechtsrat einen 444-seitigen Bericht, der die Verbrechen detailliert auflistet. In einem Dorf, Tula Toli, sollen 750 umgebracht worden sein. Es braucht viel Kraft, um sich durch die hunderte von Paragraphen mit Gräueltaten zu lesen.
Der umfangreiche UNO-Bericht bezeichnet die Situation als einen fortlaufenden Genozid und beschreibt eine systematische Kampagne, um den nördlichen Rakhine-Staat langristig von den muslimischen Rohingya zu befreien. Bei den Gräueltaten vom August 2017 sollen über 10'000 Rohingya umgekommen sein.
Die abenteuerliche offizielle Version des Genozids
Das offizielle Burma scheint sich in einer alternativen Realität zu befinden. Die Regierung unter Aung San Suu Kyi, die Armee und die lokale Regierung im Rakhine-Staat streiten die Gräueltaten von Polizei und Armee konsequent ab. Die Armee hat im letzten Jahr systematisch Indizien der Kriegsverbrechen beseitigt.
Journalisten haben eigentlich keinen Zutritt zum Rakhine-Staat und einstigen Rohingya-Dörfern wie Chein Khar Li. Genauso wenig die speziell geschaffene Kommission des UNO-Menschenrechtsrats zur Etablierung von Fakten. Dafür organisiert das burmesische Informationsministerium jeden Monat eine Pressereise. SRF ist mit dem britischen Channel 4 und dem japanischen Yomiuri Shimbun drei Tage durch Rakhine gereist.
Die interviewten Offiziellen erzählen vor Ort unisono das Gleiche: Die Rohingya seien Terroristen und hätten zuerst die Polizei angegriffen, darauf ihre Häuser selbst angezündet – um dem Militär die Schuld in die Schuhe zu schieben – und seien dann nach Bangladesch geflohen.
Nach Bangladesch, weil dort die 700'000 Rohingya-Flüchtlinge von der humanitären Hilfe komfortable Häuser und kostenlos Essen erhielten. Es ist eine Mischung aus Propaganda und völliger Negierung jeglicher faktenbasierter Argumentation von Seiten der Rohingya, Bangladesch oder der internationalen Gemeinschaft.
Bizarre Inszenierung einer alternativen Realität
Eine bizarre Inszenierung, um den ausländischen Journalisten «Die Realität zu zeigen», während tausende von Zeugenaussagen nur wenige Kilometer hinter der internationalen Grenze eine völlig andere Realität darstellen. «Es bringt nichts, internationale Medien wie Schulkinder auf eine Exkursion zu führen», sagte kürzlich auch der ehemalige burmesische Informationsminister Ye Htut zu Radio Free Asia.
Ye Hut war in den ersten Jahren nach der Öffnung Burmas im Amt und ist ein regelmässiger Kritiker der gegenwärtigen Regierung unter Aung San Suu Kyi. Nun fordert er in Rakhine freien Zugang für internationale Medien, humanitäre Helfer und die UNO.
Die Panik vor der Rückkehr
An diesen Ort sollen nun also die ersten Rohingya zurückkehren. Das haben Burma und Bangladesch zusammen mit China ausgehandelt. Es kursieren Listen mit 2200 Namen. Die meisten Rohingya in den Lagern wissen davon nichts. Viele haben panisch reagiert: Wohin sollen sie zurückkehren? Unter welchen Bedingungen? Mit welchen Rechten?
Viele weigern sich, ohne Garantien auf Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben zurückzukehren. «Wir haben Burma verlassen, weil unsere Mütter und Schwestern vergewaltigt wurden», sagt der 19-jährige Imran im Flüchtlingscmap. «Wir hielten die Grausamkeiten nicht mehr aus.»
Die Details des Deals sind nicht bekannt. Die Befürchtungen sind gross, dass die Rückkehrer in Lagern in Bangladesch ein tristes Leben fristen werden und nicht in ihre Dörfer zurückkehren können – die gar nicht mehr existieren. Burma bezeichnet die Rohingya weiterhin als «Bengalis» und verweigert ihnen Bürgerrechte, Bewegungsfreiheit und Ausbildung.
«Ich will nur in mein Land zurückkehren, wenn ich Bürgerrechte als Rohingya kriege und wir dort nicht mehr verfolgt werden», sagt Student Imran in Bangladesch. Und die Verantwortlichen müssten vor den internationalen Strafgerichtshof angeklagt und bestraft werden. «In den Büchern steht, dass Bangladesch die Rohingya schon zweimal ohne Rechte nach Burma zurückgeschickt hat.»
«Saubere und schöne Nation» ohne Rohingya
Das war 1978 und 1992. Was Imran weiss, ist in der Weltöffentlichkeit kaum bekannt. Die Ausgrenzung der Rohingya im Rakhine-Staat schlug erst seit 2012 globale Wellen. Doch der Konflikt ist alt – genauso die Säuberungsaktionen des burmesischen Militärs ebenfalls.
Nach der Militär-Operation «Drachenkönig» im Jahr 1978 flohen wohl 200,000 Rohingya nach Bangladesch. Im Jahr 1992, im Zug der Militär-Operation «Saubere und schöne Nation», flohen mindestens 250,000 Rohingya nach Bangladesch. Beide Male wurden sie zurückgeschickt.
Die dreitägige Reise durch den nördliche Rakhine-Staat fühlt sich an wie eine Reise in die Vergangenheit. 1978 und 1992 vertrieb das Militär die Rohingya und sie kamen zurück. Beide Male hat sich in Burma die Situation nicht verändert, sondern eher noch verschlimmert. Burmas Ausgrenzungspolitik änderte sich nicht.
Die Wahrheit verliert sich im Dunst der Geschichte
Der Konflikt im Rakhine-Staat hat drei Akteure: Die ethnische Minderheit der buddhistischen Rakhine, die ethnische Minderheit der muslimischen Rohingya, und der burmesische Zentralstaat. Wer Rakhine oder Rohingya interviewt, hört oft zuerst einen minutenlangen Vortrag über die Geschichte des eigenen Volkes in Rakhine. Es sind zwei verschiedene Geschichten, die exklusiv sind und sich gegenseitig fast vollständig ausschliessen.
Es geht darum, wer zuerst da war, wer im Rakhine-Staat indigen ist. Und wie wichtig der Islam im alten Königreich von Rakhine war, das im Jahr 1784 von Burma erobert wurde – für die lokale Ethnie der Rakhine, die wie die Burmesen Buddhisten sind, bis heute ein Trauma. Seither kämpfen auch sie für mehr Selbstbestimmung im Vielvölkerstaat Burma.
Mythologien und Ideologien mischen sich mit historischen Fakten. Die Wahrheit verliert sich im Dunst der Geschichte, denn historische Quellen gibt es nur beschränkt. Aber Fakt ist: Für Jahrhunderte lebten im Rakhine-Staat Buddhisten und Muslime Seite and Seite.
«Rasse» als Kriterium für Bürgerrechte
Die Rohingya sind mit der bengalischen Bevölkerung aus Bangladesch verwandt sprechen eine ähnliche Sprache. Mit der Unabhängigkeit Burmas nach dem zweiten Weltkrieg galten die Muslime in Rakhine, die sich Rohingya nannten, als Bürger von Burma. Nach der Machtübernahme von Diktator Ne Win im Jahr 1962 ging eine Zeit der Akzeptanz der Muslime in Burma zu Ende.
Die Militärregierungen definierten fortan klar, wer zu Burma gehörte, und wer nicht, hauptsächlich basierend auf Ethnie und Religion. Bis heute hat jede burmesische Identitätskarte einen Eintrag für «Religion» und «Rasse». Die Vorherrschaft im Staat fiel buddhistischen Burmesen zu. Die Rohingya hatten keinen Platz.
Ein Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982, erlassen von der Militärregierung, definierte die Abstammung von einer von 135 «nationalen Rassen» als Vorbedingung für eine Staatsbürgerschaft. Die Rohingya waren nicht auf dieser Liste.
Die Armee als heldenhafte Beschützerin der Nation
Die öffentliche Meinung in Burma ist getränkt mit Hass auf die Rohingya. Der Begriff «Kalar» ist gang und gäbe, ein rassistisches Wort für dunkelhäutige Muslime. In den Augen einer Mehrheit in Burma sind die Rohingya illegale Einwanderer und Terroristen, die das buddhistische Burma in einen islamischen Staat verwandeln wollen.
Diese Darstellung ist alt und ist vom Sicherheitsapparat systematisch über Jahre verbreitet und propagiert worden. Mit Erfolg: Das Militär gilt heute oft nicht mehr als Feind der Demokratie, sondern als heldenhafter Verteidiger der buddhistisch-burmesischen Nation gegen eine Übernahme durch Muslime.
Auch wenn zwei durchaus berechtigte Narrative über die muslimische und buddistische Geschichte von Rakhine existieren: Die Rohingya sind keine illegale Immigranten und haben sogar nach bestehenden burmesischen Gesetzen ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft: Das Gesetz von 1982 verspricht allen gebürtigen Burmesen dritter Generation, egal welcher Ethnie, die Staatsbürgerschaft.
Eine Lösung? – wohl unmöglich
Die Regierung unter der ehemaligen Demokratie-Ikone Aung San Suu Kyi kümmerte sich bisher kaum um die Krise. Mögliche Lösungen sind bekannt. Eine Kommission unter Kofi Annan hat 2017 eine Liste von Vorschlägen ausgearbeitet, die allgemein als bisher praktikabelste Lösungsansätze gelten.
Doch die Umsetzung scheint unmöglich: Das Militär kontrolliert gemäss Verfassung weiterhin das Verteidigungs-, das Innen- und das Grenzministerium. Und die lokalen Rakhine fühlen sich als doppelte Opfer: Unterdrückt durch Burmas Zentralstaat, und bedrängt durch muslimische «Immigranten» aus dem Westen – viele sind froh, dass die Rohingya weg sind.
Sendebezug: SRF 4 News, 06:45 Uhr