Seit fast fünfzehn Jahren lebt die 41-jährige Julyanna Barbosa als Frau. Dass Transsexuelle in Brasilien diskriminiert werden, hat sie immer wieder erlebt. Doch nun fürchtet sie um ihr Leben.
Anhänger von Jair Bolsonaro schlugen sie vor drei Wochen brutal mit einer Eisenstange: «Sie schrien: Was für eine gigantische Schwuchtel! Wo hast du deine Hoden versteckt? Bolsonaro muss gewinnen und diesen Müll von der Strasse räumen.»
«Wo ist die Menschlichkeit geblieben?»
Auf ihrem Handybildschirm zeigt Barbosa Fotos von jenem Morgen: Blut an Hals und Kopf. Die Erinnerung treibt ihr die Tränen in die Augen. «Es war direkt an einer Bushaltestelle, da standen noch andere. Niemand hat mir geholfen», erinnert sie sich. «Das ist vielleicht das Schlimmste. Wo ist die Menschlichkeit geblieben? In was für einem Land leben wir eigentlich?»
Es war tatsächlich ein hässlicher Wahlkampf – mit Hetzreden, gezielten Fake News und Hassverbrechen gegen Andersdenkende. Gemäss einer Erhebung des Journalistenkollektivs «Agencia Publica» gab es mindestens 50 Angriffe von Bolsonaro-Anhängern. Etwa gegen eine Journalistin, der eine Vergewaltigung angedroht wurde.
Zudem wurde der Kandidat der Linken beschuldigt, er wolle Kinder zur Homosexualität erziehen. Obwohl das erwiesenermassen nicht stimmt, geht diese Fake News noch immer um.
Ein Autofahrer versuchte, eine Frau zu überfahren, die ein Lula-T-Shirt trug. Und in Nordbrasilien wurde ein Musiker sogar erstochen, nachdem er eine politische Diskussion mit einem Bolsonaro-Anhänger geführt hatte.
Fake News als Teil der Strategie
«Agencia Publica» registrierte auch Angriffe auf Bolsonaro-Fans. Bisher sind jedoch nur sechs Vorfälle bekannt. Kandidat Bolsonaro selbst wurde Anfang September während eines Kampagnenauftritts von einem Geisteskranken mit einem Messer angegriffen.
An der Universität Fundaçao Getulio Vargas beobachtet ein Team von 25 Spezialisten den Wahlkampf. In der so genannten «Sala de Democracia Digital» analysieren sie insbesondere den Faktor Desinformation. Ihr Fazit: Um Inhalte ging es im Wahlkampf viel zu wenig. Die Themen wurden durch Falschnachrichten gesetzt.
Projekt-Koordinator Amaro Grassi berichtet: Vor dem ersten Wahlgang ging das Gerücht um, dass die digitalen Wahlurnen manipuliert sein werden.
«Zudem wurde der Kandidat der Linken beschuldigt, er wolle Kinder zur Homosexualität erziehen. Obwohl das erwiesenermassen nicht stimmt, geht diese Fake News noch immer um», sagt Grassi.
Von der Lawine der Falschnachrichten überrollt
Ausserdem hiess es, der Messerangriff auf Kandidat Bolsonaro sei eine Inszenierung gewesen, um Stimmen zu gewinnen. Ob die Falschnachrichten absichtlich verbreitet wurden? «Ganz sicher», sagt Grassi. Und weiter: «Das Thema wird uns und auch das Wahlgericht sicherlich noch eine Weile beschäftigen.»
Geraldo Tadeu Monteiro, Politikprofessor an der Universidade do Estado do Rio de Janeiro, hätte sich von der Justiz ein schnelleres Handeln gewünscht: «Man hat versucht, sich vorzubereiten. Aber dann wurde die Justiz von der Lawine der Falschnachrichten überrollt.»
Die Frage sei nicht nur: Welche Nachrichten waren falsch und wer hat sie in die Welt gesetzt? «Es wird auch darum gehen, wer dafür bezahlt hat», sagt Monteiro.
Jair Bolsonaro hat es geschafft, sich als Kandidat Anti-Establishment zu etablieren, obwohl er seit vielen Jahren im Parlament sitzt.
Der Kandidat der Linken, Fernando Haddad, will Jair Bolsonaro verklagen. Der Vorwurf: Gezielte Verbreitung von Fake News. Laut eines Berichts der Zeitung «Folha de São Paulo» sollen 150 Unternehmen gezielte Falschnachrichten in Auftrag gegeben haben – zugunsten von Kandidat Bolsonaro. Der Kandidat streitet ab, davon gewusst zu haben.
«Jair Bolsonaro hat es geschafft, sich als Kandidat Anti-Establishment zu etablieren, obwohl er seit vielen Jahren im Parlament sitzt», sagt Monteiro. «Und dabei hat ihm insbesondere seine Digitalstrategie geholfen.»
Anders als Donald Trump habe Bolsonaro in den Sozialen Medien aber nicht auf Facebook, sondern auf Whatsapp gesetzt. Gemäss Daten des Forschungsinstituts Datafolha haben 66 Prozent der wahlberechtigten Brasilianer einen Whatsapp-Account, erklärt Monteiro.
«Eine solche App bietet die Möglichkeit, jeden Tag Millionen von Nachrichten zu verschicken – und zwar direkt an die Telefone der Nutzer, das wirkt glaubwürdig. Und das ist das Geheimnis der Kampagne von Jair Bolsonaro», sagt Monteiro.
Julyanna Barbosa ist derweil froh, den Angriff überlebt zu haben. Sie will weiter als Sängerin auftreten – aber auf der Strasse wird sie vorsichtig sein: «Am besten ist es wohl, nicht allzu viel alleine unterwegs zu sein.»
Die Täter wurden noch nicht verhaftet – vielleicht sei das sogar besser, sagt Barbosa: «Sie würden doch sowieso nicht verurteilt und wären bald wieder draussen. Dann würden sie mich umbringen oder andere schlagen. Besser, ich halte mich da raus.»