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Stichwahl in Brasilien «Viele würden bereuen, dass sie Bolsonaro gewählt haben»

Kommenden Sonntag wählt das brasilianische Stimmvolk in einer viel beachteten Stichwahl seinen nächsten Präsidenten. Dieser Wahlkampf wurde von Aggressivität, «Fake News» und politischer Gewalt überschattet. Insbesondere Jair Bolsonaro fiel mit einer intoleranten und populistischen Sprache auf. Dennoch glauben Unterstützer Bolsonaros: Ist er erst einmal gewählt, wird sich «Präsident Bolsonaro» schon mässigen.

Ignacio Cano, Professor an der Universität Rio de Janeiro, warnt indes vor dieser Naivität. Schliesslich habe Bolsonaro in den letzten Jahren bewiesen, dass er von seiner spaltenden und aggressiven Rhetorik nicht abweichen will.

SRF News: Ignacio Cano, weshalb glauben Sie nicht, dass Bolsonaro als Präsident anders handeln würde, als er sich in den letzten Jahrzehnten artikuliert hat?

Ignacio Cano: Das tönt nach Donald Trump, da sagten auch alle: Er wird ja wohl nicht alles tun, was er verspricht. Über Jair Bolsonaro kann man vieles sagen, man kann ihm jedoch nicht vorwerfen, seine Positionen gewechselt zu haben. Er verteidigt seit 27 Jahren Folter und Tötungen. Wir sollten doch niemanden wählen, von dem wir am Ende hoffen, dass er nicht das tut, was er seit vielen Jahren und auch im Wahlkampf predigt.

Natürlich wissen wir nicht, wie Bolsonaro sich als Präsident verhalten würde. Aber, schon jetzt ist zu sehen, dass die intoleranten Sektoren in der Gesellschaft sich ermächtigt fühlen. Aus dem ganzen Land hören wir von Drohungen und Agressionen.

Gegen wen richten sie sich?

In dieser Wahlkampagne gab es viele politisch motivierte Agressionen. Von Seiten des Kandidaten Bolsonaro gab es einen agressiven Ton gegenüber verschiedenen Sektoren, etwa LBGT-Gruppen, Schwarzen, Gender-, und Menschenrechtsaktivisten und der gesamten Linken. Er kündigte an, jeglichen Aktivismus zu beenden. Sein Diskurs ist intolerant und verbreitet Angst.

Jair Bolsonaro verteidigt seit 27 Jahren Folter und Tötungen.

Doch der Kandidat hat öffentlich gesagt, er wolle keine Stimmen von Gewalttätern.

Die Verurteilung der Gewalt kam spät. Der Grundton der Kampagne war und ist extrem agressiv. Bolsonaro sagte etwa letzten Samstag, dass die Mitglieder der Arbeiterpartei das Land verlassen müssen oder im Gefängnis landen werden, wenn er denn gewählt wird. Es scheint, als wäre politische Opposition für ihn eine kriminelle Handlung, insbesondere, wenn sie von einer Seite kommt, die er für die Probleme im Land verantwortlich macht.

Sein Sohn hat beispielsweise mehrfach gesagt, dass das Oberste Gericht geschlossen werden müsse. Der designierte Vizepräsident sprach von der Möglichkeit eines Staatsstreiches. Bolsonaro dementierte beides, aber, solche Drohungen sind kein Zufall. Die Grundlage dieses politischen Projektes sind Einschüchterung und Aggressivität. Gewalt wird nicht versteckt, sie ist Teil des Projektes.

Bolsonaro verspricht zudem einen leichteren Zugang zu Waffen.

Das Problem ist, dass dahinter der Gedanke steht: Jeder verteidige sich, wie er nur kann. Das ist, als würde man sagen: Das Gesundheitssystem ist ohnehin kollabiert. Soll doch jeder in die Apotheke gehen, egal was kaufen und sich selbst helfen. Es ist die Logik, wie sie gerne von der NRA in den USA vorgebracht wird: Wenn es Schiessereien an Schulen gibt, lasst uns doch die Lehrer bewaffnen. Es könnte unzählige Alltagstragödien geben. Und die Probleme Brasiliens werden so sicherlich nicht gelöst.

Bolsonaro sagte, dass die Mitglieder der Arbeiterpartei das Land verlassen müssen oder im Gefängnis landen werden, wenn er denn gewählt wird.

Könnte eine Politik der harten Hand im Kampf gegen die organisierte Kriminalität helfen?

Dazu muss man verstehen: Die organisierte Kriminalität funktioniert nur im Zusammenspiel mit Vertretern des Staates. Ein Teil der Polizei ist selbst Teil der Strukturen. Wenn eine harte Hand und Polizeigewalt tatsächlich etwas ausrichten würden, wäre das Problem etwa in Rio de Janeiro schon lange gelöst.

Rio ist ein gutes Beispiel für die Ineffizienz einer solchen Politik. Dazu kommt: Die Sicherheitskräfte sollen mehr Autonomie erhalten – und wenn es bei einer Polizeiaktion Tote gibt, soll der Polizist dafür automatisch die Rückendeckung der Politik haben. Das ist eine Gefahr, übrigens auch aus Sicht des Militärs – denn dort zieht man klare, zentralisierte Strukturen vor.

Ignacio Cano

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Ignacio Cano ist Soziologieprofessor an der Universidade do Rio de Janeiro. Er ist Spezialist für Gewaltforschung und öffentliche Sicherheit.

Warum positionieren sich andere Parteien, etwa aus dem Mitte-Rechts-Spektrum, nicht klarer?

Wenn man die Zeitungen liest, klingt es, als wäre dies ein Wahlkampf zwischen Trotzkisten und Nazis. Doch, auf Seiten der Linken haben wir – und das mit allen Fehlern, die die Arbeiterpartei gemacht hat – eine moderate Linke, die nie die Demokratie bedroht hat. Auf der anderen Seite haben wir einen Kandidaten, der sich seit Jahrzehnten undemokratisch äussert und eine Diktatur lobt.

Die demokratische Rechte in Brasilien müsste sich positionieren. Sogar Marine Le Pen hat sich kritisch gegenüber den Positionen Bolsonaros geäussert. Le Pen sagte: Er sei zu radikal und vertrete inakzeptable Positionen. Solche internationalen Positionierungen werden zwar am Wahlergebnis nichts ändern, aber die internationale Gemeinschaft wird wichtig sein, um die Gefahr für die Demokratie zu reduzieren, die eine Präsidentschaft von Jair Bolsonaro darstellen würde. Ich fürchte, viele würden bereuen, ihn gewählt zu haben – aber dann ist es zu spät.

Das Gespräch führte Karen Naundorf

Mehr in «10 vor 10»

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Mehr zum Thema sehen Sie heute Abend um 21:50 Uhr in der Sendung «10 vor 10» auf SRF1.

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