Am Wochenende hat Russland erneut zahlreiche Orte in der Ukraine aus der Luft angegriffen, vor allem mit Drohnen. Erstmals seit Wochen war auch die Hauptstadt Kiew wieder Ziel.
Seit ein paar Tagen befindet sich auch SRF-Sonderkorrespondent David Nauer in Kiew. Nauer beschreibt im Gespräch eine Normalität, die keine ist.
SRF News: David Nauer, können Sie schildern, wie Sie Kiew derzeit erleben?
David Nauer: Kiew ist auf den ersten Blick sehr lebendig, es sind viele Leute auf den Strassen unterwegs, die Restaurants sind voll. Es werden sogar neue Restaurants und Läden eröffnet. Wenn man durch die Stadt spaziert, essen geht, Museen besucht und so weiter, dann könnte man glatt vergessen, dass Krieg herrscht.
Unter der Oberfläche ist der Krieg sehr präsent
Oberflächlich scheint in Kiew also Normalität zurückgekehrt zu sein. Bestätigt sich dieser Eindruck, wenn Sie mit den Menschen vor Ort sprechen?
Nein, unter der Oberfläche ist der Krieg sehr präsent. Viele Menschen hier haben Bekannte oder Freunde, die an der Front sind oder die schon gefallen sind. Ich habe mehrfach Diskussionen mitbekommen, wo die Leute sich fragen: ‹Dürfen wir hier schön ausgehen, essen gehen oder ins Theater, wenn unsere Jungs im Osten in den Schützengräben stehen und sterben?› Da gibt es also dieses moralische Dilemma.
Es gibt auch das Bewusstsein, dass der Krieg jederzeit nach Kiew zurückkommen kann. Am Samstag wurde die Hauptstadt mit Raketen beschossen.
Vor einem Jahr hat Russland gezielt die ukrainische Energieinfrastruktur angegriffen. Es kam zu Stromausfällen und viele Wohnungen blieben im Winter kalt. Ist man jetzt besser vorbereitet?
In gewisser Weise ist die Ukraine besser vorbereitet. Erstens ist die ukrainische Luftabwehr viel besser als im letzten Herbst. Zweitens haben sich auch die Leute vorbereitet. Man hat sich riesige Akku-Batterien, Dieselgeneratoren und so weiter besorgt, um für Stromausfälle gewappnet zu sein.
Die Vermutung liegt nahe, dass Russland Raketen spart, um – wenn es kalt wird – heftig anzugreifen.
Allerdings werden sich auch die Russen auf neue Angriffe vorbereitet haben. Auffällig ist, dass Russland in den letzten Wochen relativ wenig Raketen auf die Ukraine abgeschossen hat. Die Vermutung liegt nahe, dass Russland Raketen spart, um – wenn es kalt wird – heftig anzugreifen.
An der Front konnte die Ukraine jüngst kaum Erfolge vermelden. Die Gegenoffensive ist stecken geblieben. Wie wird das in der Ukraine diskutiert?
Es gibt verschiedene Meinungen. Es bedrückt viele, dass die Erfolge an der Front ausbleiben. Viele meiner Gesprächspartner befürchten, dass sich der Krieg in die Länge ziehen wird. Immer wieder habe ich auch die Frage gehört, wie die Ukraine einen jahrelangen Krieg gegen Russland durchhalten kann, besonders, wenn der Westen künftig weniger Waffen schicken wird. Die Stimmung hat sich also im Vergleich zu meinen früheren Reisen eindeutig getrübt.
Sind aufgrund der ausbleibenden militärischen Erfolge kritische Stimmen gegenüber der Armee und der Regierung lauter geworden?
Seit ich hier bin, habe ich keine offene Kritik an Präsident Wolodimir Selenski gehört. Er ist aus Sicht vieler alternativlos. Ausser ihm ist zurzeit niemand in Sicht, der das Land regieren könnte. Aber die Begeisterung für den Präsidenten ist nicht mehr so gross wie vor einem Jahr.
Das Vertrauen in Selenski ist nicht mehr blind.
Die Leute fragen sich, wie es an der Front weitergeht. Manche beklagen auch, dass die regierungsnahen Medien weiterhin eine optimistische Meldung nach der anderen verbreiten – was nicht der Lebensrealität der Menschen entspricht. Kurzum: Eine überwältigende Mehrheit unterstützt Selenski, aber das Vertrauen ist nicht mehr blind.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.