Die nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine vom Westen ergriffenen Sanktionen zeigen Wirkung: Viele Lebensmittel in Russland sind teurer geworden, internationale Unternehmen haben das Land verlassen. Trotzdem schart sich die Bevölkerung hinter dem Regime Putin. Über die Gründe weiss Journalistin Inna Hartwich mehr. Sie lebt in Moskau.
SRF News: Wie ist die Stimmung bei Russlands Bevölkerung nach bald zehn Wochen Krieg in der Ukraine?
Inna Hartwich: Es ist schwierig, dazu etwas Genaues zu sagen. Laut Umfragen stehen bis zu 80 Prozent der Menschen in Russland hinter dem Vorgehen von Präsident Wladimir Putin. Doch Russland ist kein demokratisches Land, es bewegt sich immer schneller in Richtung Diktatur. Viele Leute haben Angst, ihre Meinung zu äussern.
Trotzdem gehe ich davon aus, dass tatsächlich mehr als die Hälfte der Russinnen und Russen die «militärische Spezialoperation» in der Ukraine unterstützen, wie Moskau den Krieg bezeichnet.
Worauf stützen Sie Ihren persönlichen Eindruck?
Wenn man die Menschen auf der Strasse fragt, wenden sich manche ab, manche schreien einen regelrecht an und sagen, das sei kein «Krieg». Viele rechtfertigen Putins Vorgehen und sagen, sie stünden hinter ihm. Die Politiker wüssten schon, was sie tun – die Menschen schieben also jegliche Verantwortung von sich.
Sie sagen, die Ukraine sei voller Faschisten, deshalb sei das russische Vorgehen in der Ukraine richtig.
Die meisten aber argumentieren entlang der Propaganda am russischen TV: Die Amerikaner hätten Russland zum Krieg gezwungen, man wehre sich bloss, die Russen seien die Guten, der Westen die Bösen. Ausserdem sei die Ukraine voller Faschisten, deshalb sei das russische Vorgehen dort richtig.
Im Westen dachte man, die Stimmung in der russischen Bevölkerung würde mit den Folgen der Sanktionen wie einer Verteuerung der Lebensmittel kippen. Wieso ist sie das nicht?
Offenbar hat man sich im Westen geirrt – und die Leidensfähigkeit der Russen unterschätzt. Zwar steigen die Preise und manche Medikamente sind nicht mehr erhältlich. Doch die langsam abnehmende Lebensqualität führt bisher bloss dazu, dass die Leute noch geeinter hinter der Regierung stehen.
Wieso haben manche im Westen die russische Bevölkerung falsch eingeschätzt?
Ich würde eher sagen: Man hat vielleicht zu stark darauf gehofft, dass die Bevölkerung anders reagiert.
Der 9. Mai symbolisiert den Triumph der Roten Armee über Nazideutschland.
Offenbar hat man im Westen die Zeichen des letzten Jahres nicht wahrhaben wollen: die Repression nach innen, die Förderung des Hasses auf den Westen, den Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine.
In einer Woche, am 9. Mai, feiert Russland den Sieg über Nazideutschland – der wichtigste Feiertag des Landes. Der Druck ist gross, dann militärische Erfolge in der Ukraine vorzuweisen. Kommt dieser Druck auch aus der russischen Bevölkerung?
Nein. Zwar ist der 9. Mai für die Russinnen und Russen ein zentraler Feiertag, auch für ihre Identität. Doch wie ein Sieg über die Ukraine aussehen könnte und was Putin für den Tag anstreben könnte, weiss niemand. Trotzdem wird Putin dann sicher etwas verkünden wollen – und das macht mir etwas Sorgen.
Wieso?
Der Feiertag ist mit grosser Bedeutung aufgeladen. Er symbolisiert den Triumph der Roten Armee über Nazideutschland. Dieses Heroische wird man auch jetzt, da man aus russischer Sicht ja im Kampf mit den «Faschisten» in der Ukraine steht, darstellen wollen.
Doch wie das aussehen könnte, nachdem der Begriff Faschismus inzwischen derart sinnentleert und verdreht worden ist, ist völlig unklar. Ich bin deshalb etwas besorgt, welche Bedeutung in Moskau am 9. Mai nach aussen getragen werden könnte.
Das Gespräch führte Leonie Marti.