In der Ukraine hat die Armee zwei Offensiven gestartet: Eine im Süden des Landes, die andere im Osten. Allerdings gibt es darüber kaum Informationen und vieles bleibt unklar. Im Internet kursieren Informationen, wonach ukrainische Truppen bereits mehrere Ortschaften an der Front befreit haben sollen. Der Militärexperte Marcus Matthias Keupp versucht, Licht ins Geschehen zu bringen.
SRF News: Was ist die aktuelle Strategie der Ukraine und was passiert auf den Kriegsschauplätzen im Osten und Süden des Landes?
Marcus Matthias Keupp: Es gibt zwei Offensiven. Eine, mit der jeder gerechnet hat, im Raum Cherson im Süden. Und eine zweite, für viele überraschend, im Raum Charkiw im Osten. Im Moment bewegen sich ukrainische Truppen zu einem entscheidenden Punkt, Schewtschenko. Von dort aus könnten sie russische Versorgungslinien, vor allem die Eisenbahnlinien, unter Feuer nehmen.
Die Ukrainer bezeichnen ihr Vorgehen als ‹Strategie der 1000 Bienenstöcke›.
Was ist die ukrainische Strategie gegen die russischen Truppen?
Die Ukrainer bezeichnen ihre Strategie selbst als «Strategie der 1000 Bienenstöcke». Sie gehen nicht wie etwa im Zweiten Weltkrieg mit einem massiven Frontalangriff vor, sondern man macht kleine, dezentrale Angriffe. So wird versucht, die Logistik des Gegners zu treffen, also Munitionsdepots zu sprengen, Bahnlinien und Strassen zu zerstören und so den Nachschub zu unterbrechen.
Was passiert im Süden in der Region Cherson und um Wyssokopillja im Süden?
Dort erfolgt eine Zangenbewegung aus zwei Richtungen. Die Ukrainer haben in letzten Tagen die Front im Norden von Cherson eingedrückt und stossen nach Süden vor. Die andere Bewegung kommt von Westen. Gleichzeitig haben die Ukrainer die Brücken über den Fluss Dnepr für schwere Militärtransporte unbrauchbar gemacht.
Die russischen Truppen sind von der Versorgung abgeschnitten und stehen mit dem Rücken gegen den Dnepr.
Damit sind die russischen Truppen von der Versorgung abgeschnitten und stehen mit dem Rücken gegen den Dnepr. Im Moment passiert so viel und so schnell. Das Oberkommando der Ukraine hat für diese südliche Offensive eine «Operational Silence» verhängt, es gibt also keine Nachrichten.
Kann man von den Vorgängen im Nordosten, bei Charkiw, Balaklya und Izium von einer Offensive sprechen?
Ja, auf jeden Fall. Der Vorstoss hat sich auf Balakliya gerichtet. Diese Ortschaft ist mittlerweile von den Ukrainern eingenommen worden und sie stossen weiter in nordöstlicher Richtung auf Schewtschenko vor. Ziel ist es, diese Front einzudrücken, nur auf einem Abschnitt, um dort die Artillerie hineinstellen zu können und von dort aus die russischen Nachschublinien zu zerstören.
Dann stehen 20 russische Bataillone ohne Logistik da.
Über die Eisenbahnlinie, die Kopiansk und Izium verbindet, läuft der gesamte russische Nachschub an die Front bei Slowjansk. Ohne diese Verbindung stehen 20 russische Bataillone ohne Logistik da. Sobald die Artillerie dort steht, folgt der Beschuss der russischen Linien, das ist eine Frage von vielleicht von 48 bis 72 Stunden.
Wenn dieser Plan der Ukrainer aufgeht, was würde das für den Verlauf des Krieges bedeuten?
Es wäre eine entscheidende Wende. Im Mai haben russische Truppen versucht, auf die Städte Slowjansk und Kramatorsk vorzustossen. Der Plan war, das Gebiet in seiner ganzen Breite einzunehmen. Nun sind die Truppen durch den ukrainischen Abwehrkampf stecken geblieben. Jedes Bataillon umfasst ungefähr 800 Mann und 150 Fahrzeuge. Wenn diese grosse Zahl an Truppen nicht mehr versorgt werden kann und unter ständigem Artilleriefeuer liegt, können sie sich entweder zurückziehen oder kapitulieren. Oder sie werden aufgerieben.
Das Gespräch führte Philipp Zahn.