Im Streit um die Inhaftierung des Kulturförderers und Aktivisten Osman Kavala hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Botschafter Deutschlands, der USA und mehrerer anderer Staaten zu unerwünschten Personen erklärt. Erdogan stellt damit die Beziehungen des Westens zur Türkei vor eine neue Belastungsprobe.
SRF News: Was steckt hinter dieser Ankündigung Erdogans?
Thomas Seibert: Dahinter steckt der Fall Osman Kavala. Kavala wird beschuldigt, die regierungskritischen Gezi-Proteste in Istanbul 2013 unterstützt und einen Umsturzversuch angezettelt zu haben. Die Botschafter, um die es hier geht, hatten die Freilassung des Bürgerrechtlers verlangt. Das hat Erdogan so auf die Palme gebracht.
Erdogan riskiert damit eine Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zum Westen. Ist ihm das der Fall Kavala schlicht wert – oder steckt da mehr dahinter?
Zwei Dinge stecken dahinter: Erdogan ist davon überzeugt, dass Kavala ihn mit westlicher Hilfe stürzen will. Er bezeichnet Kavala als Vertreter des Investors George Soros. Anzeichen dafür gibt allerdings keine.
Erdogan steht derzeit nicht so gut da.
Der zweite Grund ist innenpolitisch. Erdogan steht derzeit nicht so gut da. Er braucht dringend einen innenpolitischen Erfolg. Die Lira ist auf einem Tiefststand angelangt. Es gibt Leute in der Türkei, die sagen, Erdogan hat diese Krise um die Botschafter vom Zaun gebrochen, um ausländische Sündenböcke zu finden, auf die er diese Probleme schieben kann.
Erdogan will sich damit also innenpolitisch Luft verschaffen – gelingt ihm das?
Bis anhin gelingt ihm das nicht. Regierungsnahe Medien stehen stramm an seiner Seite. Wenn man aber mit den Menschen redet, findet man kaum jemand, der dieses Manöver gut findet. Ich glaube nicht, dass es Erdogan schafft mit dieser Aktion die Nation hinter sich zu bringen.
Präsident Erdogan hat sich über lange Zeit strategisch äusserst geschickt verhalten, auch auf der internationalen Bühne. Jetzt scheint es aber doch den einen oder anderen Ausreisser zu geben. Woran liegt das?
Das liegt am türkischen Präsidialsystem, das Erdogan eingeführt hat. Seit der Einführung ist Erdogan quasi allmächtig.
Erdogan kann also schalten und walten, wie er will.
Andere Ministerien, wie etwas das Aussenamt, haben an Einfluss verloren. Dieses System führt dazu, dass es keine Kontrollmechanismen mehr gibt. Erdogan kann also schalten und walten, wie er will.
Der türkische Aussenminister hat die Anordnung Erdogans bisher noch nicht umgesetzt. Ist das eine Frage der Zeit?
Es ist unglaublich schwer vorauszusehen, was als Nächstes geschieht. Erdogan ist dafür bekannt, dass er äusserst pragmatisch ist. Es ist gut möglich, dass die Türkei in den nächsten Tagen etwas unternimmt, um die Sache vom Eis zu kriegen. Auf der anderen Seite fehlen wegen des Mangels an unabhängigen Institutionen politische Leitplanken. Deswegen kann man nicht absehen, ob er die Sache durchzieht und die Diplomaten tatsächlich ausweist.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.