Es brauche einen neuen Aufstand gegen Israel, eine neue Intifada – dazu rief gestern die radikal-islamische Hamas auf. Und das nicht zum ersten Mal. Es ist der zweite Aufruf zu Gewalt gegen den israelischen Staat innerhalb weniger Tage. Dies, nachdem US-Präsident Donald Trump am Mittwoch Jerusalem als Hauptstadt von Israel anerkannt hatte. Und tatsächlich kam es in den letzten Tagen zu blutigen Scharmützeln, vier Palästinenser verloren ihr Leben. Aber die Proteste sind bereits wieder am Abflauen, beobachtet die Journalistin Gisela Dachs in Tel Aviv.
SRF News: Woran erkennen Sie ein Abschwächen der Feindseligkeiten?
Gisela Dachs: Man kann nie wissen, ob die Proteste nicht wieder aufflammen. Verglichen mit vergangenen Zuspitzungen kann man aber sagen, dass sich die Lage nun schneller beruhigt hat. Ich war am Sonntag an der Hebräischen Universität in Jerusalem, an der es sehr viele israelisch-jüdische, israel-arabische und auch palästinensisch-arabische Studenten gibt.
Eine Eskalation in den Palästinensergebieten ist derzeit auf keiner Prioritätenliste. Das neue Ordnungsprinzip im Nahen Osten heisst nun eher: Schiiten gegen Sunniten – und umgekehrt.
Zu meinem Erstaunen war dort «Business as usual», also der gewohnte Gang der Dinge. Man hat das Gefühl, dass die Proteste auf ganz bestimmte Brennpunkte mit entsprechender Medienpräsenz begrenzt sind, es gab gestern auch einen Messeranschlag in Jerusalem.
Dann verhallt der Ruf nach einem blutigen Aufstand gegen Israel fast ungehört?
Der Ruf kommt insbesondere, oder vielleicht auch nur von der Hamas und damit aus dem Gaza-Streifen. Die Hamas würde sich wünschen, dass der Aufstand nicht im Gaza-Streifen stattfindet, weil man dort selber sehr geschwächt ist. Sie würden den Aufstand gerne ins Westjordanland verlegen. Dort zeigt die Bevölkerung allerdings Ermüdungserscheinungen, sie ist vielleicht auch mit einer Strategielosigkeit konfrontiert.
Welche Strategie würden sich die Palästinenser denn wünschen?
Früher appellierte man an die Welt und rief ihr zu, dass sie zu Palästina stehen müsse – sonst gebe es im Nahen Osten grosse Aufstände und Chaos. Diese Drohungen haben früher funktioniert, heute nicht mehr. Der Nahe Osten hat sich mit dem Arabischen Frühling radikal verändert, daraus ist ein wirkliches Chaos entstanden. Die Palästina-Frage steht nicht mehr ganz oben auf der Agenda.
Die Palästinenser haben sich sehr stark auf ihre Opferposition zurückgezogen. Sie sind aber auch Akteure – manchmal mehr, als dass sie das selber wahrhaben möchten.
Das wird den Palästinensern langsam auch klar, auch die Hamas hat nur noch wenige Verbündete in der Region. Eine Eskalation in den Palästinensergebieten ist derzeit auf keiner Prioritätenliste. Das neue Ordnungsprinzip im Nahen Osten heisst nun eher: Schiiten gegen Sunniten – und umgekehrt. Das wird vor allem verkörpert durch die Rivalität zwischen Iran und Saudi-Arabien. Gerade die Saudis haben sehr verhalten auf die Trump-Rede reagiert. Früher wäre das anders gewesen.
Wem trauen es die Palästinenser denn am ehesten zu, ihre Interessen durchzusetzen?
Wenn sie denn danach gefragt würden... Die Nachfolge des mittlerweile 82-jährigen Palästinenserpräsidenten, Mahmud Abbas, ist völlig offen. Zudem stehen keine Wahlen an. Sie seien zwar im Versöhnungsprozess zwischen der Fatah und Hamas eingeplant, einen Fahrplan dafür gibt es allerdings nicht. Die Palästinenser sind insgesamt an einer Wegscheide angelangt, wo sie einen Realitäts-Check machen müssten: Erstens müssen sie das eigene Haus in Ordnung bringen und demokratische Prozesse installieren.
Zweitens müssen sie realisieren, dass sich der Nahe Osten verändert hat. Gewisse Reflexe, auf die die Palästinenser immer zurückgegriffen haben, funktionieren so nicht mehr. Schliesslich sollten sie sich auch überlegen, sich mit den Israeli zu verständigen und nicht mit Europa oder anderen Ländern. Am Ende müssen sich Israeli und Palästinenser einigen. Die israelische Gesellschaft hat sich zwar nach der gewalttätigen zweiten Intifada ziemlich nach rechts bewegt. Das muss aber nicht für immer so bleiben. Die Palästinenser haben sich sehr stark auf ihre Opferposition zurückgezogen. Sie sind aber auch Akteure – manchmal mehr, als dass sie das selber wahrhaben möchten.
Das Gespräch führte Hanna Jordi.