Die neue Woche beginnt für die türkische Lira so, wie die alte endete: mit einer Abwärtsbewegung. Seit heute früh gelten auch die neuen US-Zölle auf türkischen Stahl. Der türkische Präsident Erdogan sieht darin eine Kampagne gegen sein Land. Und er droht, die Türkei werde sich China und Russland zuwenden, wenn die USA so weiter machten. Thomas Seibert über die geopolitischen Konsequenzen dieses Streits.
SRF News: Die türkische Regierung will einen Wirtschafts-Aktionsplan in Kraft setzen. Ist das ein taugliches Mittel, um den Zerfall der Lira zu stoppen?
Thomas Seibert: Dieser Plan hat zumindest einmal den lawinenartigen Verfall der Lira in der Nacht gestoppt. Das sind kurzfristige Massnahmen. Langfristig muss hier viel mehr geschehen.
Erdogan kündigte an, die Türkei werde sich vom Nato-Partner USA ab- und China und Russland zuwenden. Was will er mit dieser Drohung erreichen?
Das hat zwei Dimensionen. Innenpolitisch will Erdogan seinen Leuten und besonders seinen Anhängern signalisieren, dass er sich nicht von den USA herumkommandieren lässt. Nach aussen – an den Westen, besonders an die Amerikaner – will Erdogan signalisieren, dass die Türkei auch andere strategische Möglichkeiten habe, sich neu zu orientieren.
Welche Möglichkeiten hat denn die Türkei für eine Annäherung an Peking und Moskau?
Die Türkei und Russland sind in einem engen Wirtschaftsaustausch, Russland baut die ersten türkischen Atomkraftwerke. Auch mit China gibt es Gespräche über einen Ausbau des Handels. Auf politischer Ebene arbeitet Erdogan eng mit Wladimir Putin im Syrien-Konflikt zusammen. Und er hat auch schon des Öfteren darüber spekuliert, dass die Türkei sich regionalen Bündnissen anschliessen könnte, die von Russland und China dominiert werden.
Gibt es Anzeichen dafür, dass Russland und China die Türkei umgekehrt auch verstärkt als Partner sehen?
Zu einem gewissen Anteil trifft das zu. Man darf aber nicht vergessen, dass die Türkei fast die Hälfte ihrer Exporte nach Europa schickt. Es gibt also klare Grenzen, auch aus politischer Sicht. Mit Russland hat Erdogan trotz Zusammenarbeit erhebliche Differenzen im Syrien-Krieg, und es gibt zwischen den Ländern Interessenskonflikte etwa auf dem Balkan oder im Kaukasus. Den Umgang Pekings mit den Uiguren hat Erdogan einmal als Völkermord bezeichnet. Die politischen Verhältnisse sind auch da nicht ganz störungsfrei.
Könnte die aktuelle Situation der Auftakt zu einem besseren europäisch-türkischen Verhältnis sein?
Es eröffnet die Möglichkeit für Europa, wieder mehr mit der Türkei ins Gespräch zu kommen, weil sich hier eine strategische Einsamkeit der Türkei abzeichnet: Schlechte Verhältnisse mit den USA, gleichzeitig existiert kein gleichwertiger strategischer Partner im Osten.
Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa werden störanfällig bleiben.
Auch dieser Annäherung sind allerdings Grenzen gesetzt, weil die Türkei insgesamt unberechenbarer geworden ist. Die Stimmung von Erdogan ist das entscheidende Kriterium geworden, Institutionen wie etwa das türkische Aussenamt zählen weniger. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa werden störanfällig bleiben.
Warum äussert Erdogan aus dieser eher schwachen Position solche Drohungen?
Es geht vor allen Dingen um die eigenen Wähler. Erdogan will ablenken von der Verantwortung seiner eigenen Regierung für die Wirtschafts- und Währungskrise, die die Türkei im Moment erlebt. Er will die Verantwortung dafür auf ausländische Kräfte abschieben. Im Moment gelingt ihm das, auch die Opposition kritisiert mehr die USA als die eigene Regierung in Ankara. Und dieses Spiel wird wahrscheinlich noch weiter gehen, weil Erdogan darin einen grossen innenpolitischen Nutzen sieht.
Das Gespräch führte Isabelle Maissen.