Die zweijährige Hiba schläft und schnarcht leise in den Armen ihrer Mutter. Die Familie lebt im Dorf Kaprin im indischen Teil Kaschmirs.
Letzten Februar riss nicht weit entfernt ein Selbstmordattentäter 40 Soldaten mit in den Tod. Dies erhöhte die Spannungen zwischen Indien und Pakistan, die seit über 70 Jahren bestehen.
Der Kaschmirkonflikt gilt als einer der ältesten der Welt. Das Gebiet um Kaprin ist besonders stark militarisiert. «Unser Haus wird immer wieder von Soldaten durchsucht, weil sie vermuten, dass sich Aufständische bei uns verstecken», erzählt Hibas Mutter, Marsala Jan.
Bei einer dieser Durchsuchungen wurde Hiba schwer verletzt: Die Kugel einer Schrotflinte traf ihr rechtes Auge.
Marsala Jan weiss nicht, ob ihre Tochter auf diesem Auge je wieder sehen wird. Hiba habe sich zudem verändert. «Sie ist unruhig, schläft schlecht und ist viel aggressiver als früher.»
Den Psychiater Arshad Husain überrascht dies nicht. Er untersucht viele solche Fälle am Universitätsspital in Srinagar, der Provinzhauptstadt.
Zahlreiche Kinder in Konfliktzonen hätten wegen solcher Erlebnisse Persönlichkeitsstörungen, sagt Husain. «Fast alle Kaschmiri erleben mindestens ein traumatisches Ereignis, wie den Beschuss durch Schrotmunition, Erniedrigung, Haft oder Folter.»
Meine Tochter ist unruhig, schläft schlecht und ist viel aggressiver als früher.
Die Geschichte der kleinen Hiba ist nur ein Beispiel unter Millionen: 22 Prozent der Menschen, die in Konfliktgebieten leben, leiden unter Depressionen, Angstzuständen, Schizophrenie oder sogenannten posttraumatischen oder bipolaren Störungen.
Bei fünf Prozent der Bevölkerung lassen sich sogar besonders schwere Formen dieser Krankheiten feststellen. Das zeigt eine grossangelegte Studie.
Die Erhebung zeigt einerseits auf, wie verbreitet seelische Leiden in Konfliktgebieten sind. Aber auch, wie wenig dagegen getan wird.
In den meisten Gesellschaften, die von Krieg und Gewalt geprägt sind, fehlt die nötige medizinische und psychologische Betreuung. Und vielerorts sind psychische Probleme nach wie vor ein grosses gesellschaftliches Tabu.
Jordaniens Kultur der Scham
Dieses Tabu der psychologischen Probleme zu brechen: Das hat Aysha Talhouni sich vorgenommen. 34 Jahre ist sie alt, Kinderpsychologin und lebt in Amman, der Hauptstadt Jordaniens.
Von ihrer Praxis aus sieht sie direkt auf die Abdoun Brücke. Diese ist ein schönes, aber auch trauriges Wahrzeichen der jordanischen Hauptstadt Amman. Immer wieder springen Verzweifelte von dieser Brücke in den Tod. Sie erinnern Aysha Talhouni daran, warum sie Psychologin geworden ist.
Im Vergleich zu anderen Ländern im Nahen Osten hat Jordanien Glück: Das Land hat seit bald 50 Jahren keinen Krieg mehr erlebt.
Trotzdem ist es dort um die psychische Gesundheit der Menschen schlecht bestellt. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO müsste das jordanische Gesundheitssystem im Bereich psychische Gesundheit dringend weiterentwickelt werden.
Die Leute in diesem von Konflikten umgebenen Land hätten wenig Zukunftsperspektiven, sagt Aysha. Sie könne verstehen, dass jemand nur noch den Suizid als Ausweg sehe, wenn er oder sie keine Hilfe bekomme.
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Bild 1 von 6. Jordanien lebt seit 50 Jahren ohne Krieg – das gilt auch für dessen Hauptstadt Amann. Bildquelle: Thilo Remini / SRF.
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Bild 2 von 6. Der Blick über die Dächer von Jordaniens Hauptstadt Amann. Die Ruhe trügt. Es fehlen die Perspektiven. Bildquelle: Thilo Remini / SRF.
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Bild 3 von 6. Die junge Bevölkerung versucht ihre Gefühlen Ausdruck zu verleihen – mit Grafitis. Bildquelle: Thilo Remini / SRF.
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Bild 4 von 6. In den Strassen Amanns kommt es aber auch immer mal wieder zu handfesten Auseinandersetzungen von jungen Erwachsenen. Bildquelle: Thilo Remini / SRF.
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Bild 5 von 6. Von der Abdoun Brücke springen Verzweifelte Bürger in den Tod. Es ist ein trauriges Wahrzeichen. Bildquelle: Thilo Remini / SRF.
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Bild 6 von 6. Aysha Talhouni empfindet ihre Ausbildung zur Psychologin als grosse, persönliche Befreiung. Bildquelle: Thilo Remini / SRF.
Diese Hilfe ist rar in Jordanien. Das liege aber nicht nur am Geldmangel im Gesundheitswesen: «Ich wuchs auf ohne zu wissen, wie man über die eigenen Gefühle redet. Unsere Gesellschaft anerkennt keine individuellen Gefühle und Bedürfnisse und weiss auch nicht, wie sie damit umgehen soll. Wir haben eine Kultur der Scham.»
Ehrt eure Eltern
Aysha Talhounis Eltern waren alles andere als begeistert, als sie ihnen eröffnete, dass sie Psychologin werde. Ursprünglich hatte sie andere Zukunftspläne: Sie studierte Architektur, zog dafür ins Ausland.
Erst dieser Aufenthalt und die psychische Erkrankung einer ihr nahestehenden Person, bewogen sie dazu, ihre Berufswahl zu ändern.
In unserer Kultur sind Eltern Autoritäten, wie auch die Regierung – und die hinterfragt man nicht.
Anfänglich führte das innerhalb ihrer Familie zu Konflikten: Aysha – die dritte von vier Töchtern – begann, Normen und Verhaltensmuster zu hinterfragen, wurde aufmüpfig. «In unserer Kultur sind Eltern Autoritäten, wie auch die Regierung. Und die hinterfragt man nicht», erklärt sie.
Das beobachte sie auch in ihrer Praxis: Viele Kinder wagten nicht, über ihr Elternhaus zu sprechen. «Ehrt eure Eltern»: Das stehe im Koran, wie auch in der Bibel – und das mache es schwierig, den Kindern zu erklären, dass man kritisch über seine Eltern sprechen und sie trotzdem lieben könne.
Verbesserungen sind möglich
Es habe Zeit gebraucht, doch in ihrer eigenen Familie habe ihre Berufswahl viel Positives bewirkt: Heikle Themen würden nicht mehr unter den Teppich gekehrt, sie würden offen miteinander reden.
Der Druck, sich wie eine idealtypische jordanische Familie zu verhalten, sei weg. Mittlerweile hat sogar Ayshas Mutter dieselbe Ausbildung absolviert, eine ihrer Schwestern steht kurz vor dem Abschluss.
Aysha Talhouni sieht ihre Arbeit vor allem darin, einen Raum zu schaffen, wo man über Wut- und Ohnmachtsgefühle offen reden kann. Nur so könne sich die Gesellschaft in dieser Region weiterentwickeln. Ihr sei deshalb klar: Sie wolle in Jordanien arbeiten und nicht auswandern, wie so viele andere.
Widerstandskraft der Jordanier
Die Widerstandsfähigkeit der Menschen hier sei gross, ebenso ihr Potential, sich trotz vieler Einschränkungen zu entwickeln. Es brauche einfach jemanden, der an sie glaube. Oder daran, dass sie an sich selbst glauben können. Darin sieht Aysha Talhouni ihre Lebensaufgabe.