Knapp sieben Monate nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Russland eine Teil-Mobilmachung der Armee angeordnet. Kremlchef Wladimir Putin sagte, ab sofort würden 300'000 Reservisten eingezogen, um die Personalprobleme an der Front in der Ukraine zu lösen. Mit der ebenfalls geäusserten Atomdrohung Putins spitzt sich laut dem ehemaligen SRF-Korrespondenten in Russland, David Nauer, die Situation weiter zu.
SRF News: Was bedeutet die Teil-Mobilmachung von 300'000 Reservisten konkret?
David Nauer: Zunächst nicht wirklich viel. Russland hat zu wenig Truppen an der Front, deshalb gelang den Ukrainern in den vergangenen Wochen ein Befreiungsschlag. Putin will diese «Löcher» an der Front stopfen, doch das wird dauern: Die Reservisten müssen zuerst eingezogen, dann bewaffnet und ausgebildet werden. Es wird Wochen dauern, bis sie an der Front in der Ukraine auftauchen.
Es wird Wochen dauern, bis die Reservisten an der Front in der Ukraine auftauchen.
Es stellt sich auch die Frage, wie gut die Kampfmoral und die Ausrüstung sind. Bislang zeigt sich, dass die russischen Soldaten gar nicht recht wissen, wofür sie in der Ukraine kämpfen. Ausserdem sind die Ukrainer an gewissen Frontabschnitten inzwischen besser ausgerüstet als die Russen – dank der militärischen Unterstützung aus dem Westen.
Putins zusätzliche Soldaten werden im besten Fall weitere Rückeroberungen der Ukrainer verhindern, doch die grossen Probleme der russischen Armee kann er damit nicht lösen.
Wie begründet Putin die Notwendigkeit für den Schritt vor der eigenen Bevölkerung?
Er stellt Russland als Opfer dar: Der Westen wolle Russland zerstören und habe die Ukraine zum Krieg gegen Russland aufgehetzt. Kiew wolle nicht nur keine Verhandlungen führen, die ukrainische Regierung wolle sich sogar Atomwaffen beschaffen, so Putin.
Putin sagt, es sei nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, es sei ein Krieg gegen die Nato und den Westen.
Implizit sagt Putin: Es ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, es ist ein Krieg gegen die Nato und den Westen. Gegen die Ukraine gings noch ohne Mobilmachung, die sind ja kein richtiger Gegner, doch jetzt steht die Nato vor der Türe, da braucht es mehr Soldaten, deshalb die Teil-Mobilmachung. Ob das Volk dieser Argumentation folgt, bezweifle ich.
So sind die Suchanfragen im Internet nach Einweg-Flügen ins Ausland heute Vormittag sprunghaft angestiegen, ebenso die Suche nach der Antwort auf die Frage: Wie bricht man sich eine Hand? – um nicht von der Armee eingezogen zu werden.
In den von Moskau annektierten Gebieten in der Ostukraine sollen Ende Woche Referenden über einen Beitritt zu Russland abgehalten werden. Wie hängen diese Scheinreferenden mit der neusten Ankündigung Putins zusammen?
Das Besorgniserregende ist: Putin sagte, Russland werde diese Referenden – die Pseudo-Abstimmungen mit vorher bestimmten Ausgang sein werden – anerkennen und die Gebiete annektieren. Danach werde Russland jeden Angriff auf sein Staatsgebiet «mit allen Mitteln» abwehren.
Putin setzt darauf, dass die Ukrainer und die Europäer Angst bekommen vor einem Atomkrieg.
Putin sagt also, Russland annektiere jetzt diese ukrainischen Gebiete, und wenn die Ukrainer versuchen, sie zurückzuerobern, würden alle Waffen eingesetzt, womöglich auch Atombomben. Das ist eine krasse verbale Eskalation. Putin baut eine Drohkulisse auf und setzt darauf, dass die Ukrainer und die Europäer Angst bekommen vor einem Atomkrieg – eine Art psychologische Erpressung. Ob Putin tatsächlich erwägt, Atomwaffen einzusetzen, weiss man nicht – doch es ist sicher eine sehr gefährliche Drohung.
Das Gespräch führte Raphael Günther.