Der «Islamische Staat» (IS) hat das verheerende Attentat auf eine Konzerthalle in Moskau für sich reklamiert. Beobachter gehen davon aus, dass der Ableger IS Khorasan (ISPK) für den Angriff verantwortlich ist. SRF-Fachredaktor Daniel Glaus ordnet ein, was über die Hintergründe des IS und ihren aktivsten Ableger bekannt ist.
Was ist der IS Khorasan?
Die Terrorgruppe, die sich zum Anschlag in Moskau bekennt und sich «Islamischer Staat» (IS) nennt, ist in sogenannte Provinzen unterteilt: Eine der in letzter Zeit aktivsten ist die Provinz Khorasan. Beobachter gehen davon aus, dass diese Gruppe für die Tat in Moskau verantwortlich ist. Der Name bezieht sich auf eine historistische Grossregion im heutigen Afghanistan, Iran und Turkmenistan. Die Organisation wird deshalb als IS Provinz Khorasan bezeichnet (auch: ISPK, ISKP oder ISIS-K).
Dieser IS-Ableger wurde 2014 gegründet – im Jahr als in Syrien und Irak die Kernorganisation des IS ein selbsterklärtes «Kalifat» ausrief. Zu den Gründern gehörten ehemalige Anhänger von Taliban in Afghanistan und Pakistan sowie Al-Kaida. Neben der Unzufriedenheit mit ihren früheren Terrorgruppen spielten offenbar auch finanzielle Anreize eine Rolle: Der ISPK soll höhere Saläre zahlen, sagen Beobachter.
Wie gefährlich ist der IS Khorasan?
Die Zahl der heute aktiven Kämpfer ist sehr schwierig einzuschätzen. Die Angaben variieren zwischen 1000 und 3000, manche Länder sprechen von bis zu 6000 Kämpfern, wie es in einem UNO-Bericht heisst. Die meisten Opfer bisheriger Anschläge sind in Afghanistan und Pakistan zu verzeichnen. Der ISPK steht den Machthabenden Taliban feindlich gegenüber und greift diese auch an. Inmitten des Abzugs westlicher Truppen aus Afghanistan im Sommer 2021 etwa verübte der ISPK einen verheerenden Anschlag auf den Flughafen in Kabul, bei dem über 180 Menschen starben. Zudem steht der ISPK hinter einem Anschlag auf eine Gedenkveranstaltung im Iran im Januar mit bis zu hundert Toten.
Weshalb greift der IS Russland an?
Wenn sich das Bekennerschreiben des IS bestätigt, so reiht sich der Anschlag in eine ganze Reihe von Angriffen ein. Russland gilt salafistisch-dschihadistischen Terrorgruppen seit Jahrzehnten als Feind. Das geht auch auf die Besatzung Afghanistans durch sowjetische Truppe ab 1979 zurück. Damals kämpften die Taliban rund ein Jahrzehnt gegen die Sowjetunion – bis diese abzog.
Russland zählt für den IS zu den «Kreuzzügler-Nationen». Neben den USA, europäischen Ländern, Israel sowie Jüdinnen und Juden gehört Russland damit zu den Hauptzielen des IS und auch Al-Kaida. Nachdem Russland 2015 in den Bürgerkrieg in Syrien eingriff – an der Seite von Bashar al-Assad – wurde die anti-russische Propaganda noch verstärkt. Im Oktober 2015 verübte die Sinai-Provinz des IS einen Anschlag auf eine russische Passagiermaschine über Ägypten, 224 Menschen an Bord starben.
Welche Rolle spielt der Tschetschenien-Konflikt?
Eine wichtige. Teilweise kämpften auch islamistische Separatisten gegen die russischen Truppen, es kam auch zu Terroranschlägen. Aufgrund der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung in Tschetschenien gelten die verheerenden Kriege mit Zehntausenden zivilen Opfern teils auch als Beispiele in der islamistischen Propaganda für einen diskriminierenden Umgang mit Muslimen.
Auch der ISPK hat Russland in seiner Propaganda zuletzt vermehrt zum Feind erklärt. Im September 2022 griff ein ISPK -Kämpfer die russische Botschaft in Kabul an, tötete zwei Botschaftsangestellte sowie sechs weitere Menschen.
Welche Strategie verfolgt der ISPK ?
Trotz seines Namens, der sich auf die Region Afghanistan bezieht, verfolgt der ISPK auch eine internationale Strategie. Darauf deuten auch Propagandaerzeugnisse in Fremdsprachen hin, etwa ein elektronisches Magazin in Englisch. Dabei verfolgt die Terrorgruppe offensichtlich eine Doppelstrategie, wie auch die IS-Kerngruppe: einerseits sollen über die Propaganda Anhänger zu sogenannten «inspirierten» Taten angestachelt werden. Dazu ist auch der Messerangriff eines Jugendlichen auf einen jüdischen Mann in Zürich zu zählen.
Andererseits hat der ISPK im Gegensatz zur Kerngruppe des IS offensichtlich den Anspruch, und scheinbar auch die Kapazität, eigens ausgebildete Kämpfer aus Afghanistan für Anschläge loszuschicken. Bestätigen sich die Hinweise zum Anschlag in Moskau, so war dies ein Beispiel eines solchen kommandoartigen Angriffs, die schwieriger durchführbar und damit seltener, aber tendenziell verheerender geworden sind.