Grafton ist eine kleine Stadt in Australien. 19'000 Einwohner, schöne Landschaft, hohe Arbeitslosenrate, hohe Jugendsuizidrate, provinziell. Mit einer konservativen Bevölkerung, die liebenswert ist, ein wenig weltfremd und unterschwellig rassistisch. Vor allem gegenüber jenen, die zuerst da waren.
Seit Tausenden von Jahren leben Ureinwohner am Clarence-Fluss, rund sechs Stunden Autofahrt nördlich Sydney. Doch sie haben Mühe, im mehrheitlich weissen Städtchen ins Pub gelassen zu werden oder eine Wohnung zu mieten. Alltag, nennen es die Betroffenen. Beiläufiger Rassismus, nennen es die Soziologen.
Grafton ist typisch für das ländliche Australien. Hier wuchs der grösste Massenmörder der jüngeren australischen und neuseeländischen Geschichte auf. Brenton Tarrant, bald 30, wird diese Woche im neuseeländischen Christchurch verurteilt.
Am 15. März 2019 war Tarrant in der südneuseeländischen Stadt in eine Moschee gestürmt. Ohne Gnade zu zeigen, richtete er dutzende Muslime hin. Dann ging er zur nächsten Moschee, wo er weiterschoss. Die Verbrechen übertrug Tarrant live im Internet.
Der Sohn einer bekannten Familie sei ein schweigsamer Junge gewesen, «und interessiert an Computern», sagte ein Nachbar den Medien, als Journalisten nach der Tat über Grafton herfielen wie ein Schwarm blutlüsterner Insekten.
In der Stadt wollte niemand verstehen, weshalb der ehemalige Schüler von Grafton High zum Mörder geworden war. Schüchtern sei Brenton gewesen, reflektierte ein Nachbar. Wenn er ihm auf der Strasse begegnet sei, habe Tarrant zwar immer Hallo gesagt. «Aber er schaute einem nie in die Augen. Er ging mit gesenktem Kopf.»
Suche nach dem Lebenssinn
Irgendwas müsse «geklickt» haben in Brenton, als 2010 sein Vater an Krebs starb, sagen andere. Tarrant war inzwischen ein muskelbepackter Fitnesstrainer, der in einem Studio in Grafton arbeitete. Doch nach Rodney Tarrants Tod entschied sich sein Sohn zu reisen. Er war Jahre unterwegs, kam nur ab und zu nach Hause.
Seine Suche nach dem Sinn des Lebens brachte ihn nach Österreich, Frankreich, Nordkorea und Pakistan. Dort soll sich der Mann «für den Islam und den Koran interessiert haben», so ein Hotelbesitzer. «Er sammelte Informationen, während er vorgab, Muslime zu mögen. Wir waren überrascht, als wir von der Schiesserei hörten», so Israr Osho Tang.
Rassenwahn im «Dark Web»
In Facebook-Einträgen schien Tarrant Liebe für Pakistan zu zeigen. Voller «warmherziger und gastfreundlicher Leute» sei das Land, schrieb er. Es war wohl das Internet, das sein Leben für immer verändern sollte – und das seiner Opfer und Tausender indirekt Betroffener.
Über das «Dark Web» habe er seine Gedanken mit Rassenwahn infiziert, glauben Ermittler. Aus dem schüchternen, aber freundlichen Mann aus der Provinz wurde ein hasserfüllter Extremist, der die «weisse Kultur» zur Religion machte und Angehörige «minderwertiger» Menschengruppen ausradieren wollte.
In Grafton will man nicht mehr über den berüchtigtsten Sohn der Stadt sprechen. Wer seinen Namen nennt, dem wird die kalte Schulter gezeigt.
In einer Ecke liegt eine vergilbte Zeitung aus den Tagen nach der Tat. Tarrant sei nicht ein Produkt von Grafton, wehrt Bürgermeister Jim Simmons jeden Vorwurf ab. «Wir dürfen nicht vergessen, dass er seit vielen Jahren nicht mehr hier gelebt hat. Irgendetwas geschah mit ihm, als er im Ausland war.»