Probe im Theater Uschhorod, einer Kleinstadt im Westen der Ukraine. Auf dem Programm steht ein Stück für Kinder. Es erzählt die Geschichte einer Ente, die den Sinn des Lebens sucht. Eine der Schauspielerinnen ist die 65-jährige Vira Lebedinska. Sie ist eine elegante Erscheinung, trägt ein dezentes Parfum, etwas Schmuck – Lebedinska ist eine Künstlerin, keine Frage. Wenn sie ihre entsetzliche Geschichte erzählt, bleibt sie meist gefasst.
Sie lebte und arbeitete in Mariupol, als die Russen gleich zu Beginn der Grossinvasion vorrückten und die Stadt unter Dauerbeschuss nahmen: vom Land, vom Meer und aus der Luft. Lebedinska sagt: «Ins Theater begab ich mich am 3. März. Ich hatte die Stadt nicht verlassen, ich wusste nicht, dass Mariupol umzingelt war. Als ein Geschoss bei meiner Wohnung einschlug und es kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung mehr gab, da verstand ich: Die Apokalypse war da. Ich musste weg, denn sonst wäre ich unter Trümmern begraben worden und niemand hätte mich je gefunden.»
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Bild 1 von 7. Das Theater in Mariupol vor dem Luftangriff (Aufnahme 27. Juni 2019) ... Bildquelle: Keystone/ Lev Sandalov.
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Bild 2 von 7. ... und nach dem Luftangriff vom 16. März 2022. Bildquelle: Keystone/ Alexei Alexandrov.
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Bild 3 von 7. Die Zerstörung des Theaters ist auch innerhalb des Gebäudes sichtbar. Bildquelle: Keystone/ /Alexei Alexandrov.
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Bild 4 von 7. Eine Galerie im Theater nach der Bombardierung ... Bildquelle: Keystone/ /Alexei Alexandrov.
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Bild 5 von 7. ... und so sah die Galerie vorher aus. Bildquelle: Keystone/ Lev Sandalov.
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Bild 6 von 7. Das Dach des Theaters ist durch den russischen Luftangriff zerstört. Bildquelle: Keystone/ SERGEI ILNITSKY.
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Bild 7 von 7. Im Herbst 2022 errichteten die russischen Besatzer gigantische Stellwände um die Ruine des Theaters, um diese abzuschirmen. Auf den Plakaten waren russische Schriftsteller abgebildet. Bildquelle: Keystone/ Alexei Alexandrov.
Die Sängerin und Schauspielerin packte das Nötigste ein, nahm ihren Kater Gabriel mit und richtete sich im Musikzimmer des Dramatheaters ein – ihrem Arbeitsort. Zu ihr gesellte sich eine Kollegin mit Familie. Die Kammer war im Souterrain, die dicken Mauern des Gebäudes hätten ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben, so Lebedinska. Bald verbreitete sich das Gerücht, es werde evakuiert, man müsse sich im Theater einfinden. Und bald kamen immer mehr Menschen aus allen Teilen der Stadt: «Wir öffneten die Türen und sie strömten herein. Es kamen über tausend Menschen, sie liessen sich in den Logen im dritten, zweiten und ersten Stock nieder, beim Hintereingang, überall. Es waren schrecklich viele Leute.»
Plötzlich habe der Kater sein Fell gesträubt
Man begann, sich zu organisieren. Vira machte sich ans Putzen. Es gab nur ein paar wenige Toiletten und kein fliessendes Wasser. Freiwillige brachten Lebensmittel und Kleider, die sie aus zerbombten Geschäften geholt hatten. Helfer bauten draussen eine Feldküche auf. Und um kochen zu können, begann man das Mobiliar zu verfeuern.
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Bild 1 von 2. Die Schauspielerin Vira Lebedinska überlebte die Bombardierung auf das Theater in Mariupol. Bildquelle: srf/ Judith Huber.
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Bild 2 von 2. Probe in Uschhorod: Die Schauspielerinnen und Schauspieler machen trotz des Krieges in der Ukraine mit ihren Theaterstücken weiter. Bildquelle: srf/ judith Huber.
«Ich sagte ihnen: Was tut Ihr da, das ist doch ein Theater! Doch sie winkten ab, und innerhalb von zwei Tagen waren alle Stühle weg und der Saal leer.» Dann kam der Frost, minus 10 Grad. Immer wieder verliessen Leute das Theater, versuchten, aus der Stadt zu fliehen, ihren Platz nahmen andere ein. Und dann kam der 16. März.
Plötzlich habe der Kater sein Fell gesträubt: «Ich hörte das Geräusch eines Flugzeuges und dann ... ‹biiii›. Danach: eine gewaltige Explosion. Gefolgt von: Stille. Wir haben nichts begriffen, so eine laute Explosion gab es noch nie.»
Erst dann hätten sie Hilfeschreie gehört. Der Mann der Kollegin begab sich nach oben, kam zurück und sagte: Das Theater gibt es nicht mehr, wir müssen sofort raus. Sie schafften es, das Gebäude zu verlassen, mussten dabei aber über Leichen steigen, denn das Dach und die drei Stockwerke waren auf den Hauptsaal und die Bühne gestürzt und hatten dabei all die Menschen erschlagen. Wie sie es dann schaffte, leicht bekleidet und völlig verstört die Stadt zu verlassen, ist eine weitere schlimme Geschichte.
Doch jetzt ist Vira Lebedinska in Uschhorod, hat Arbeit gefunden und steht immer noch auf der Bühne. Sie kann sich nur ein Zimmer in einem Wohnheim leisten und sagt trotzdem: Sie beklage sich nicht, sie danke Gott dafür.
«Es war Absicht, es war gezielter Mord»
Ihre Erinnerungen aber wird sie nicht los. Was sie zudem bestürzt, ist der Umstand, dass es selbst in Mariupol Leute gebe, die die Lüge von der russischen Unschuld glaubten: «Sie riefen mich an und sagten, die Ukrainer haben das Theater von innen gesprengt, man hat den Sprengstoff in Schachteln dorthin gebracht. Ich kann das nicht verstehen. Ja, freiwillige Helfer haben uns Schachteln gebracht, aber da waren Nahrungsmittel drin, Schokolade etwa.»
Lebedinska sagt: Es habe in Mariupol tatsächlich Leute gegeben, die auf die Ankunft der Russen gewartet hätten. Die Stadt sei teilweise russisch geprägt und von ehemaligen russischen Militärs bewohnt worden. Die Leute, so Lebedinska, würden nur das hören, was sie auch hören wollten.
Mariupol inmitten des russischen Angriffskriegs
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Bild 1 von 9. Am 24. Februar 2022 marschiert Russland in die Ukraine ein. Ab dann kommt auch Mariupol unter Beschuss. Viele Menschen suchen Schutz in Bunkern. Bildquelle: Keystone/AP Photo/Mstyslav Chernov.
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Bild 2 von 9. Gleich zu Beginn der Invasion sorgt ein Angriff auf eine Entbindungsklinik weltweit für Schlagzeilen. (Bild vom 9. März 2022). Bildquelle: Keystone/AP Photo/Mstyslav Chernov.
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Bild 3 von 9. Getötete Menschen werden unter anderem in Massengräbern am Stadtrand beerdigt. (Bild vom 9. März 2022). Bildquelle: KEYSTONE/AP Photo/Evgeniy Maloletka.
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Bild 4 von 9. Russische Spezialeinheiten, hier eine tschetschenische Gruppe, erobern innerhalb weniger Wochen die Gebiete der Hafenstadt. (Bild vom 21. April 2022). Bildquelle: REUTERS/Chingis Kondarov.
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Bild 5 von 9. Bei einem Luftangriff wird das Stadttheater von Mariupol zerstört. (Bild vom 26. April 2022). Bildquelle: Imago/SNA/Alexey Kudenko /Sputnik Mariupol.
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Bild 6 von 9. Wochenlang steht das belagerte Stahlwerk Asowstal in Mariupol unter Beschuss. Mehrere Hundert Soldaten und einige Zivilisten verschanzen sich dort. (Bild vom 11. Mai 2022) . Bildquelle: REUTERS/Alexander Ermochenko.
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Bild 7 von 9. Ihr Ausharren wird zum Symbol für den Widerstandswillen im Krieg gegen Russland. (Bild vom 10. Mai 2022). Bildquelle: Reuters/ Dmytro Orest Kozatskyi/Press service of Azov Regiment.
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Bild 8 von 9. Hunderttausende von Menschen haben die Stadt bis Ende 2022 verlassen. Die Mehrheit der Wohngebäude wurden laut lokalen Behörden zerstört. (Bild vom 25. September 2022). Bildquelle: Keystone/EPA/STRINGER.
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Bild 9 von 9. Nach der ukrainischen Niederlage nahmen die russisch kontrollierten Behörden Einfluss auf das Stadtbild. (Bild vom 28. September 2023). Bildquelle: REUTERS/Alexander Ermochenko.
Bis heute weiss man nicht genau, wie viele Menschen beim Luftangriff getötet wurden. Lebedinska sagt: Zeitweise hätten über tausend Menschen im Theater gelebt und es sei bekannt gewesen, dass Leute dort Zuflucht gefunden hätten. Man brachte sogar einen Schriftzug an – hier sind Kinder – der aus der Luft sichtbar war. Sie könne nicht sagen, wie viele Opfer es gegeben habe, aber es seien sehr viele gewesen: «Es war Absicht, es war gezielter Mord.»