Abdul Aziz steht mit den Füssen in braunem Matsch. Um ihn herum: die schlammverschmierte Ruine seines Hauses, mit den Resten seines alten Lebens. Ein zerstörter Kühlschrank, Spielzeugautos der Kinder, ein Teller, eine Matratze, die von der Wucht der Flut ins Wohnzimmer gespült wurde und jetzt im Schlamm vor sich hin modert.
Die tödliche Schlammlawine überraschte die Familie mitten in der Nacht.
«Wir hörten plötzlich ein lautes Geräusch», sagt Aziz. «Meine Mutter und mein Bruder gingen vor die Tür, um zu sehen, was los ist. Das Wasser kam schnell, flutete den ersten Stock und spülte meine Mutter einfach weg.»
Wir hatten eine Bäckerei, davon lebte die ganze Familie. Jetzt ist da nur noch ein grosser Kredit.
Ein steiler Berghang oberhalb des Dorfes war nach ungewöhnlich heftigem Monsun-Regen Ende Juli abgerutscht und hatte auf dem Weg ins Tal Felsbrocken, Erde, Häuser und ganze Bäume mit sich gerissen.
Abdul Aziz’ Mutter wird noch immer vermisst
Aziz' Bruder liegt knapp vier Wochen nach dem Unglück schwerverletzt im Spital. Die Leiche der Mutter wird noch immer vermisst. Wie es weitergehen soll, weiss Abdul Aziz nicht.
«Wir hatten eine Bäckerei, davon lebte die ganze Familie», sagt der 32-Jährige. Jetzt sei da nur noch ein grosser Kredit.
Wie Abdul Aziz geht es vielen hier. Von seinem Dorf ist nur noch wenig übriggeblieben. Auch das Nachbardorf wurde weggeschwemmt und ein Teil der Teeplantage, die vielen Menschen hier Arbeit gibt.
Mehr als 400 Menschen sind nach inoffiziellen Angaben der Bezirksverwaltung gestorben. Mehr als 100 werden noch vermisst. Fast 300 Menschen wurden verletzt, viele andere haben Land und Haus verloren. Die Polizei hat das ganze Gebiet abgeriegelt. Bagger sind dabei, Schlamm und Geröll weg zu buddeln.
Naturkatastrophen sind nichts Ungewöhnliches im Süden Indiens. Aber der gewaltige Erdrutsch in der Region Wayanad im Bundesstaat Kerala sei der schlimmste in der Geschichte Indiens, heisst es in einer Studie im Auftrag der State Disaster Management Authority in Kerala.
Für Kerala ist es das schlimmste Unglück seit sechs Jahren. Auch damals kamen nur wenige Kilometer von Abdul Aziz' Dorf entfernt mehr als 400 Menschen bei einem anderen Erdrutsch ums Leben.
Der Klimawandel hat die Katastrophe ausgelöst
Wissenschaftler Vischnu Das ist überzeugt, dass der Klimawandel die Katastrophe ausgelöst hat. Der Mann mit der Ranger-Kappe ist Chef des Hume Center for Ecology and Wildlife Biology in Wayanad. Er erforscht die Folgen des Klimawandels in der Region.
«Seit sechs Jahren erleben wir hier extreme Wetterereignisse», sagt Das. Grund sei die Erwärmung des Arabischen Meeres. Als Folge bildeten sich mehr vertikale Wolken, die ins Landesinnere geweht würden. Wenn diese Wolken auf die Berge Wayanads stiessen, regneten sie ab. Innerhalb kürzester Zeit fielen Unmengen von Regen.
Sein Team habe den intensiven Regen täglich gemessen und sah die Katastrophe kommen. Sie hätten die Behörden informiert. Aber die hätten nicht reagiert.
Nach dem fatalen Erdrutsch verbot die Lokal-Regierung ihm und anderen Wissenschaftlern, mit den Medien zu sprechen.
Schon 2010 warnte eine Expertengruppe vor der Gefahr von Erdrutschen an den steilen Bergen Wayanads. Und riet dazu, in den besonders gefährdeten Gebieten keine Bäume abzuholzen, keine Steinbrüche mehr zu betreiben, keine neuen Tourismusunterkünfte zu bauen. Der Bericht verschwand ungelesen in der Schublade.
Lobbygruppen verhinderten strengere Bauvorschriften
«Die Politik hatte andere Prioritäten», sagt Wissenschaftler Vischnu Das. Lokale Lobbygruppen hätten Druck auf die Regierung gemacht und durchgesetzt, dass es keine Baubeschränkungen gebe. Das bestätigt hinter vorgehaltener Hand auch ein Mitarbeiter der Tourismusbehörde gegenüber SRF.
In den letzten Jahren sind in der landschaftlich reizvollen Gegend, nur ein paar Autostunden von der IT-Metropole Bangalore entfernt, Hunderte neuer Resorts entstanden – einige auch an den steilen Hängen, die jetzt der Erdrutsch weggerissen hat. Die lokale Regierung, die den Ruf hat, korrupt zu sein, liess es zu. Der Tourismusminister wollte sich auf Anfrage nicht äussern.
Ausgerechnet der Tourismus leidet nun am stärksten unter den Folgen der Katastrophe.
Natürlich ist es schlimm, was passiert, aber solche Unglücksfälle gibt es auf der ganzen Welt.
Ein Restaurant rund 20 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt. Im Fernsehen an der Wand werden Bollywood-Tänze gezeigt. Doch niemand schaut hin.
«Nur ein Kunde ist heute hier gewesen», sagt der Besitzer, der anonym bleiben möchte. Schauen Sie, sagt der Gastronom und zeigt auf die andere Seite der Strasse: Alle Verkaufsstände sind verwaist. Auch 200 Taxi-Fahrer hätten keine Arbeit mehr, ihre Familien nichts zu essen.
Im Tourismus läuft seit dem Erdrutsch gar nichts mehr
Seit dem fatalen Erdrutsch meiden Touristinnen und Touristen die ganze Region.
Der Restaurantbesitzer sagt, er könne seine Mitarbeitenden nicht mehr bezahlen. Und seinen Kredit nicht zurückzahlen. Darum hofft er, dass die Regierung schnell ein Machtwort spricht, damit alles weitergeht wie früher. Darauf hofft auch der örtliche Tourismusverband.
Natürlich sei es sehr schlimm, was passiert sei, sagt Generalsekretär Shylesh C.P., ein Architekt und Investor, auf dessen Bildschirm schon das nächste Hotel entsteht, «aber solche Unglücksfälle gibt es auf der ganzen Welt».
Der Verband habe eine grosse Social-Media-Kampagne gestartet, um die Touristen wieder zurückzuholen, sagt Shylesh C.P., der eigene Tourismusresorts, Clubs und Home-Stays in Wayanad besitzt.
Der Tourismus sei die wichtigste Einnahmequelle für die Region, betont der Investor. Die Landwirtschaft ist wegen des Klimawandels in der Krise.
Wegen Menschen wie Shylesh C.P. sind Wissenschaftler und Aktivistinnen besorgt, dass auch die neue Katastrophe zu keinem Umdenken führen könnte. Sie fordern einen Masterplan, der die ganze Region in nutzbare und ökologisch sensible Gebiete einordnet und die bisherige Wild-West-Bebauung verbietet.
Opfer sind meistens Arme – die am wenigsten zum Klimawandel beitragen
Ähnliche Katastrophen könnten sich wiederholen, warnt Wissenschaftler Vischnu Das. Wenn es nicht schnell eine Regulierung gebe, werde in drei Monaten alles weitergehen, wie vorher, befürchtet er.
Leidtragende wären die Armen, die von solchen Katastrophen immer am meisten betroffen sind – obwohl sie am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich seien.
Menschen wie Balakrishnan, der nur seinen Vornamen benutzt. Der alte Mann stochert an diesem wolkenverhangenen Morgen verloren mit einem Schraubenzieher im Schlamm herum, neben dem Haus des Bäckers. Ein raschelndes Plastik-Cape schützt ihn gegen den erneuten Regen.
Aber was, wenn die Regierung uns in ein paar Wochen wieder vergessen hat?
«Ich versuche, Dokumente zu finden, die der Erdrutsch weggespült hat.» Sie könnten den Opfer-Familien nützlich sein, hofft Balakrishnan, der sechs Familienmitglieder und viele Freunde und Kollegen bei dem Unglück verloren hat.
Er macht sich Sorgen, wie es weitergeht für ihn und all die anderen Opfer des Erdrutsches, wo doch alles zerstört ist hier.
Noch bekomme er Essen von der Regierung, sagt der Teepflücker. «Aber was, wenn sie uns in ein paar Wochen wieder vergessen hat?»