Es ist 20 Jahre her, seit das Meer mit meterhohen Wellen Thailands Küste verwüstet hat. Davon ist heute kaum mehr etwas zu sehen. Doch vergessen ist die Katastrophe nicht. Sieben Menschen aus Thailand teilen ihre schmerzvollen Erinnerungen.
Nicolas Stoffel (63), Pensionär und Restaurant-Beteiligter in Phuket
Eigentlich wollte Nicolas Stoffel als junger Mann nach Australien. In Phuket ist der Tessiner hängen geblieben und Tauchlehrer geworden. Das war vor 37 Jahren. Der Tsunami war eine Zäsur in seinem Leben. Danach ist er vom Taucher zum Beizer geworden.
Heute sitzt Nicolas Stoffel im Restaurant «Sabai Corner», an dem er mitbeteiligt ist, mitten im Dschungel, sechzig Meter hoch über dem Meeresspiegel. Er zeigt Fotoalben mit Bildern von der Hilfsaktion nach dem Tsunami. Stoffel gehörte zu den Helfern, die nach dem Tsunami Leichen geborgen haben und dafür bis auf die Urlaubsinsel Ko Phi Phi hinausgefahren sind. «Jemand musste es tun», sagt er. Er hat sich damals verausgabt und über Monate geschuftet, geholfen und aufgeräumt.
Er erwähnt den Supermarkt im Keller am Strand von Patong, wo so viele gestorben sind. Er erinnert sich an den Geruch, als er zum ersten Mal nach der Katastrophe nach Khao Lak gefahren ist: «Das war der Geruch von 6000 verwesenden Körpern.» Danach hatte Stoffel genug vom Meer. Tauchen konnte er nicht mehr. «Es machte keine Freude mehr und das Gefühl, unter Wasser zu sein, war nicht mehr dasselbe», erzählt er. Es reiche ihm heute, von seinem Restaurant, mit sicherem Abstand, aufs Meer hinauszublicken. «Ich möchte gerne vergessen, was ich nie werde vergessen können.»
Solae Leebamrung (63), Fischer in Nairai
Zwanzig Jahre nach der Welle ist das Leben von Fischer Solae Leebamrung eigentlich exakt dasselbe: Er lebt am selben Ort und fängt am gleichen Ort Fische wie damals. An den Tag des Tsunamis erinnert er sich genau: Wie zuerst die Kaffeetassen zitterten, wie er seine Mutter verlor und sie zum Glück schwimmen konnte, und wie nach der Welle nichts mehr da war. «Ich weiss noch jedes Detail», erzählt Leebamrung.
Er ist nach der Katastrophe sehr bald wieder zurückgekehrt. Er sagt, das sei eben die Natur und fragt: «Was soll man schon tun, ausser vergessen, nach vorne schauen, und weiterleben?» Manchmal sitze er mit Freunden und sie sprechen über die Vergangenheit, aber ohne dabei tief zu graben. Das sei nur deprimierend.
Würden sie dauernd an die vielen Toten denken, hätten sie keine Energie zu arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Er denke über die Zukunft nach und schaue nicht zurück. «Ich bin nicht reich, ich arbeite einfach als Fischer», sagt er. «Mein Leben ist eigentlich wie in den alten Tagen.»
Boontip Sa-ngo (54), Süssigkeitenverkäuferin, Ko Phra Thong
Das Dorf, in dem Boontip Sa-ngo auf der Insel Ko Phra Thong täglich Süssigkeiten verkauft hat, gibt es nicht mehr. Der Ort ist heute mit Mangroven überwachsen. Sie hat vier Töchter und hatte einen Sohn, der heute 23 Jahre alt wäre. Sie versuchte ihn noch zu packen, als die Welle kam, die so hoch wie die Kokospalmen wurde. Nur sein Hemd hat sie später wieder gefunden. Ihre Töchter sind für Jahre nicht mehr zurück ans Meer. Ihr Mann hat nie wieder über den Tsunami gesprochen.
Sie erinnert sich, wie damals ein Arzt aus einer Nachbarprovinz Pillen verteilt hat für die, die wegen Ängsten nicht schlafen konnten. «Viele haben bis heute Angst», sagt sie. «Die Erinnerungen stecken in den Köpfen fest.»
Die Angst, dass sich so eine Katastrophe wiederholen könnte, ist gross. Und jedes Mal, wenn sie auf die Insel zurückkehre, dann vermisse sie ihren Sohn und all die Verwandten, die ums Leben gekommen sind. «Eigentlich würde ich gerne zurückkehren», sagt sie, «aber es fühlt sich hier nicht sicher an.»
Wanchai Jitjareun (67), Katastrophenschützer, Ban Nam Khem
Im Fischerdorf Ban Nam Khem lebten 4000 Menschen. Wohl ein Viertel von ihnen ist durch den Tsunami getötet worden, darunter viele Namenlose und Wanderarbeiter. Wanchai Jitjareun hat viele Menschen aus seiner Verwandtschaft verloren. Der Tsunami hat das Leben im Fischerdorf grundlegend verändert. Die Sandbänke sind anders und die Fischerboote können nicht mehr hinausfahren.
Einst ankerten hier 150 grosse Fischerboote, erzählt er. «Wir, die den Tsunami direkt erlebt haben, denken häufig daran zurück und versuchen heute, andere zu warnen.» Die jüngere Generation beunruhige ihn. Für sie sei das bereits Geschichte und sie würden denken, dass moderne Technologie ihnen im Katastrophenfall helfen würde.
Jitjareun leitet ein lokales Katastrophenschutzteam und versucht in der Region, das Bewusstsein über Tsunamis wach zu halten. Seine Enkel sind bereits in der Primarschule. «Ich erzähle ihnen die Geschichten vom Tsunami Stück für Stück», sagt er. Zum Glück sei das heute auch Schulstoff.
Arton Kitjapon (48), Abt Wat Rath Niramith, Ban Nam Khem
Die Mönche in der Region haben sich nach dem Tsunami um die Leichen gekümmert. Die Identifizierung und Betreuung fand in den Tempeln statt. Darunter war Arton Kitjapon. Er beschreibt die unmögliche Aufgabe im Wettlauf gegen die Verwesung im tropischen Klima. Sie hätten versucht, die hunderten Toten nach buddhistischen Prinzipien zu behandeln. «Die Menschen glauben, dass auch die Toten essen», sagt er. Sie hätten ihnen täglich Essen zubereitet. «Das taten wir für drei Monate. Es sind sehr deprimierende Erinnerungen.»
In den zwei Jahren nach dem Tsunami seien viele Menschen regelmässig zum Tempel gekommen: Um zu trauern, zu beten, zu verarbeiten. Danach seien es weniger geworden, weil sie die buddhistischen Weisheiten bereits in sich getragen hätten.
Die Aktivitäten im Tempel wie etwas meditieren oder das Schrubben der Böden hätten übermässiges Denken verhindert und geholfen, mit den Verlusten umzugehen. Christliche Organisationen hätten im ersten Jahr danach versucht, Überlebende für ihren Glauben zu gewinnen. Aber der Buddhismus sei schlussendlich tiefgründiger. «Später sind sie wieder zu uns in den Tempel gekommen», sagt Arton.
Suporn Greuter (43), Besitzerin Thai Helping Point, Wallisellen
Am Naiyang-Strand auf Phuket standen vor dem Tsunami nur Fischerhütten, kleine Holzbungalows. Suporn Greuter ist mit dem Meer aufgewachsen. Es sei ihr Spielplatz gewesen. Hier hat sie mit 15 Jahren ihre schweizerischen Pflegeeltern getroffen, die Muscheln gesucht haben. «Wir kannten damals das Wort Tsunami gar nicht», erzählt sie. «Es existierte nicht in der thailändischen Sprache.»
Sie war längst in der Schweiz, als der Tsunami die Häuser ihrer grossen Verwandtschaft verwüstete. Ihre Pflegeeltern sehen die Welle am Fernseher und riefen sofort an. Mit 20’000 Franken flog sie nach Thailand, um zu helfen und ihre Verwandten zu besuchen. «Es war brutal und schlimm», erinnert sie sich. Am Naiyang-Strand ist glücklicherweise nur eine Person ums Leben gekommen. Ihr Bruder und ihre Schwester hätten bis heute Angst, zum Fischen aufs Meer hinauszufahren.
Heute betreibt sie eine kleine Firma, den «Thai Helping Point», in Wallisellen und in Phuket. Sie unterstützt Visa-Gesuche, macht Beglaubigungen und Übersetzungen. Der Tsunami sei kein Thema mehr, weder bei Schweizern noch bei den Thais. «Alles ist wieder gebaut worden und wo früher Natur und Bäume waren, stehen heute Hotels», sagt sie.
Sonthaya Laolang (45), Besitzer Rimlay Bungalows, Phuket
Fünf Jahre habe es gedauert, bis er wieder zurück ins Leben gefunden habe, sagt Sonthaya Laolang. Er besitzt eine Reihe von Bungalows am Strand. Er erinnert sich deutlich an den Morgen, als das Meer zurückwich und das Wasser von den trockengelegten Korallen tropfte. «Es fühlt sich an wie gestern», sagt Laolang. Das gehe allen so, die das erlebt hätten. Niemand hatte gewusst, was es bedeutet, wenn sich das Meer zurückzieht. Nach der Katastrophe habe er erfahren, dass das in Japan offenbar öfters geschieht.
Das sei heute anders: Hotels, Unternehmen und Schule trainieren regelmässig. Jeden Mittwoch heulen zum Test die Sirenen. Die Angst vor dem Meer habe heute nachgelassen, aber die Alarmbereitschaft sei geblieben. Wenn der Wasserstand des Meeres bei Ebbe unnatürlich niedrig ist, sei der Verdacht auf einen Tsunami sofort da.