Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan soll sich heute zum ersten Mal im Fall Khashoggi äussern. Der saudische Journalist kam von einem Besuch des saudischen Konsulats in Istanbul vor drei Wochen nicht mehr zurück. Am vergangenen Wochenende hatte Saudi-Arabien zugegeben, dass Khashoggi im Konsulat gestorben ist.
Warum die plötzliche Wortmeldung Erdogans? Journalist Thomas Seibert sieht in der Linie der Türkei einen Machtkampf verbunden mit einer Gratwanderung – Ankara wolle sich dem Westen als besserer Partner präsentieren, dürfe die Öllieferanten am Golf aber auch nicht zu sehr verärgern.
SRF News: Khashoggi ist vor drei Wochen verschwunden. Warum äussert sich der türkische Präsident erst jetzt?
Thomas Seibert: Das hat vor allem damit zu tun, dass die westlichen Staaten sich viel deutlicher geäussert haben. Die gemeinsame Erklärung von Deutschland, Frankreich und Grossbritannien hat der Türkei den Mut gegeben, offensiver aufzutreten. Ausserdem will man Saudi-Arabien ein wenig ärgern: Heute beginnt in Riad eine internationale Investorenkonferenz. Auch das spielt beim Zeitpunkt eine Rolle.
Bis gestern hat sich die Türkei darauf beschränkt, den Medien Informationen zum Fall Khashoggi zu liefern, heute bezieht Erdogan Stellung. Wie würden Sie die Strategie der Türkei einschätzen?
Die Türkei will dem Westen signalisieren, dass sie ein verlässlicher Partner von den USA und Europa ist. Die Linie der Türkei unterscheidet sich stark vom Zickzack und den widersprüchlichen Erklärungen der Saudis.
Die Linie der Türkei unterscheidet sich stark vom Zickzack der Saudis.
Auf der anderen Seite will Erdogan im regionalen Machtkampf zwischen der Türkei und Saudi-Arabien Vorteile für sein Land gewinnen. Er will den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman schwächen.
Kann es sich die Türkei denn leisten, Saudi-Arabien allzu deutliche Vorwürfe zu machen und damit zu verärgern?
Ankara muss sehr vorsichtig vorgehen. Das erklärt auch die Taktik der Türkei der vergangenen drei Wochen. Sie wird Saudi-Arabien in den kommenden Monaten womöglich noch als Öllieferanten brauchen, weil im November neue amerikanische Sanktionen gegen die Ölindustrie von Iran in Kraft treten. Erdogan kann es sich nicht leisten, alle Brücken abzubrechen.
Worum geht es in dem regionalen Machtkampf zwischen der Türkei und Saudi-Arabien?
Zum einen um das Verhältnis zur Muslimbruderschaft. Das ist die älteste Organisation des politischen Islam. Erdogan hat schon vielen Vertretern in der Türkei Unterschlupf gewährt. Saudi-Arabien dagegen sieht die Muslimbrüder als tödliche Gefahr für das Königshaus. Die Muslimbruderschaft wird als Terrororganisation verfolgt.
Über all dem schwebt die Frage: Wer ist der Führer in der islamischen Welt?
Zum anderen gibt es verschiedene Interessensgegensätze in regionalen Konflikten. Die Türkei hat sich in einem Streit zwischen Saudi-Arabien und dem Emirat Katar klar auf die Seite der Kataris gestellt, sogar Soldaten geschickt als Warnung für die Saudis. Über all dem schwebt die Frage, wer der Führer der islamischen Welt ist. Traditionell fällt diese Rolle den Saudis als Hüter der heiligen Stätten Medina und Mekka. Aber Erdogan profiliert sich immer wieder als inoffizieller Sprecher aller Muslime.
Welche Signale sendet Erdogan denn den anderen muslimischen Ländern, wenn er Saudi-Arabien direkt kritisiert?
Er sendet vor allem das Signal, dass er derjenige ist, der zu Recht auf die Führerschaft in der muslimischen Welt pocht. Auch viele Länder in der Region sind geschockt über das Vorgehen von Saudi-Arabien. Sie fragen sich, ob sie die Nächsten sind, denen so etwas passiert. An die Muslimbruderschaft geht das Signal: Ihr seid sicher bei uns. Ein hochrangiger Mitarbeiter von Erdogan hat auch öffentlich gesagt, die Muslimbrüder und andere Dissidenten aus dem arabischen Raum seien in der Türkei nach wie vor sicher.
Wie schätzen Sie Erdogans Chancen ein, dass er diese Gratwanderung schafft?
Bisher haben die Türken ihre Karten sehr gut gespielt. Allerdings ist jetzt der Punkt erreicht, wo Erdogan Ross und Reiter nennen muss. Die Chancen stehen aber nicht schlecht, dass Erdogan das packt.
Das Gespräch führte Kevin Capellini.