Unverhohlen stellt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dem Westen weiterhin Bedingungen und baut an neuen Partnerschaften im Nahen Osten. Eine Einschätzung der diversen aussenpolitischen Machtdemonstrationen Erdogans von Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
SRF News: Was bezweckt die Türkei mit ihrer Haltung in der Nato?
Günter Seufert: Die Türkei will ganz offiziell, dass Nato-Mitglieder stärker gegen Gruppen vorgehen, die sie selbst als terroristisch bezeichnet. Das sind die Kurden-Organisation YPG in Syrien und die Gülen-Bewegung in der Türkei. Zudem braucht die Türkei die Nato, um mit Russland auf Augenhöhe sprechen zu können. Als Nato-Mitglied kann sie sich gleichzeitig gegen missliebige Politik westlicher Länder wehren.
Erdogan sucht neue Partnerschaften im Nahen Osten. Mit welchem Zweck?
Die Türkei war bis vor kurzem in ihrer Region ziemlich isoliert. Die Beziehungen zu Israel, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten waren schlecht, weil die Türkei in diesen Ländern während des Arabischen Frühlings muslimische Basisbewegungen unterstützte. In der Hoffnung, dass dort Bewegungen an die Macht kommen, die der AKP in der Türkei nahestehen. Doch diese Rechnung ist nicht aufgegangen.
Zudem hofft die Türkei in ihrer tiefen Finanzkrise auf Investitionen vor allem von Ländern wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ebenso auf Swap-Abkommen zur Refinanzierung der Schulden.
Was bedeutet die Neupositionierung der Türkei für die Partnerschaften im Westen?
Damit kann die Türkei ihren Balance-Akt zwischen der Nato und Russland vermutlich leichter weiterführen. Die Türkei sieht – ähnlich wie Russland – eine stetige Schwächung des Westens und den Übergang zu einer multipolaren Welt. Hier kann sie ihre eigenen Interessen am besten durchsetzen, wenn sie die Grossmächte Russland und USA gegeneinander ausspielt. Dafür darf sie aber weder vom Westen vollkommen abhängig sein, noch von Russland abhängig werden.
Die Türkei sieht – ähnlich wie Russland – eine stetige Schwächung des Westens und den Übergang zu einer multipolaren Welt.
Kann sich die Türkei darauf verlassen, dass sie für den Westen unverzichtbar ist?
Bisher kann sie das. Zwar ist sie mit der Blockade des Nato-Betritts von Finnland und Schweden wohl an die Grenzen gegangen. Das löste in den europäischen Think Tanks nie dagewesene desillusionierte Meinungen über die Türkei als Sicherheitspartner aus. Aber es wird wohl noch lange dauern, bis der Westen zumindest die Möglichkeit anerkennt, dass die Türkei vielleicht einmal ins andere Lager abdriftet.
Inwiefern ist die türkische Aussenpolitik auch für die innenpolitische Galerie?
Erdogan steht wirtschaftlich gewaltig unter Druck. Die Mittelschichten verarmen. Eine Besserung wird nicht rasch eintreten. Die konfrontative Politik gegenüber der Nato und auch gegenüber Griechenland, wo Erdogan den Status der östlichen Ägäis-Inseln in Frage stellt, dient wohl auch dazu, in der Türkei die Reihen gegen den Westen zu schliessen.
Erdogan hält aussenpolitisch viele Bälle in der Luft. Wie gross ist die Gefahr, dass das misslingt?
Bisher nicht so gross. Erdogan hat seine Truppen in Nordsyrien und im Nordirak. Er war kriegsentscheidend in Libyen und Nagorny Karabach. Er ist zu einem geopolitisch bestimmenden Akteur im Nahen Osten geworden. Fraglich ist nur, wie lange die fragile ökonomische Struktur der Türkei das noch trägt und die Bevölkerung bereit ist, für solche aussenpolitischen Machtdemonstrationen zu bezahlen und zu leiden.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.