Die bisherige Nato-Strategie datiert von 2010. Sie wirkt völlig aus der Zeit gefallen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, damals norwegischer Ministerpräsident, erzählt, wie die Nato Russland als strategischen Partner sah. «Die Bedrohung durch konventionelle Angriffe auf Nato-Gebiet ist gering», hiess es im damaligen Konzept. Im neuen Konzept gilt Russland als direkte Bedrohung.
Die Nato werde, falls nötig, jeden Zentimeter Boden verteidigen, erklärte US-Präsident Joe Biden. Statt mit seiner Aggression die Finnlandisierung Europas zu erreichen, habe Putin die «Natoisierung Europas» erreicht, meinte er.
«Die Nato ist zurück»
In kleinen und grossen Mitgliedländern ist man sich einig, das dieser Nato-Gipfel einen Wendepunkt markiert. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte sagt es knapp: «Die Nato ist zurück.»
Politiker verwenden den Begriff «historisch» recht grosszügig. Hier ist er ausnahmsweise angebracht. Die isländische Ministerpräsidentin Katrin Jakobsdottir spricht gar von «einem grossen Moment in der Geschichte der Allianz». Ihr britischer Amtskollege Boris Johnson sieht «einen gewaltigen Schritt vorwärts».
Die neue Strategie ist laut Nato-Generalsekretär Stoltenberg die Antwort auf die von Präsident Putin ausgelöst grösste Sicherheitskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Vom Abschreckungs- zum Verteidigungskonzept
Die Nato schwenkt nun radikal um. Die Strategie von 2010 war ein Friedenskonzept und beruhte auf Abschreckung. Damit sollte es gar nicht erst zum Krieg kommen. Dazu war man gar nicht mehr imstande, Europa in grossem Umfang über längere Zeit zu verteidigen. Doch das wurde natürlich nicht zugegeben.
Das wird nun anders. Und zwar schnell. 2023 soll das neue Konzept bereits umgesetzt sein. Es basiert auf mehr Truppen aus Nato-Ländern in den osteuropäischen Mitgliedstaaten. Statt bloss rund tausend sollen es neu gegen 5000 sein, ganze Brigaden.
Zugleich sollen mindestens 300’000 Nato-Soldatinnen und -Soldaten binnen Tagen, maximal Wochen mobilisiert und an die Front geschickt werden können. Heute wurde das Monate dauern. Die USA stationieren wieder erheblich mehr Truppen in Europa. Neue Kriegsschiffe, zusätzliche Luftwaffengeschwader, zusätzliche Bodentruppen. Polen soll Hauptquartier eines Armee-Korps werden.
Sehr viel mehr Geld für die Verteidigung
Fest steht: Mehr tun wird mehr kosten. Auch dafür wächst die Bereitschaft. Jene Nato-Staaten, die das selbstgesetzte Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Verteidigung zu stecken, noch nicht erreicht haben, sind nun auf dem Weg dahin.
Inzwischen gelten zwei Prozent nicht mehr als Wunschziel, sondern als Untergrenze. Während sich Deutschland lange verweigerte, sieht Bundeskanzler Olaf Scholz das plötzlich als Selbstverständlichkeit: «Eine der Konsequenzen der Zeitenwende, die wir erleben, ist, dass wir sehr viel mehr Geld für Verteidigung ausgeben müssen.»
Kampf zwischen Demokratie und Autokratie
Nato-weit wird es um mehrere hundert Milliarden Dollar gehen. Pro Jahr. Dieser Preis sei gerechtfertigt, findet die slowakische Präsidentin Zuzana Caputova: «Es geht, was der Ukraine-Konflikt vor Augen führt, um einen weltweiten Kampf zwischen Demokratie und Autokratie.»