Darum geht es: Ende Januar hat die türkische Armee mit Hilfe von verbündeten syrischen Rebellen eine Offensive auf die nordwestsyrische Region um die Stadt Afrin gestartet. Die Region wurde seit mehreren Jahren von den dort mehrheitlich lebenden Kurden selber verwaltet. In der Stadt lebten ursprünglich mehrere Zehntausend Menschen. Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs sind Zehntausende weitere Menschen in die Region geflohen, die vor Ende Januar vom Krieg praktisch verschont geblieben waren. Laut der UNO befanden sich in der Region um Afrin Ende Januar insgesamt rund 400'000 Menschen.
Dramatische Lage für die Zivilbevölkerung: Die Lage der in Afrin fast ganz eingeschlossenen Menschen wird immer prekärer. «Die Stadt wurde mit Artillerie und aus Flugzeugen beschossen», sagt NZZ-Korrespondentin Inga Rogg gegenüber Radio SRF. Zwar gebe es noch einen schmalen Korridor, der aus der Stadt herausführt, doch dieser könne von den türkischen Truppen beschossen werden. Das erschwere Hilfslieferungen. Laut der UNO ist schon vor einer Woche die Wasserversorgung unterbrochen worden, Brot wird knapp und Ärzte klagen über eine sich verschlechternde medizinische Situation.
Deshalb hat Erdogan den Angriff befohlen: Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind die Kämpfer der kurdischen YPG, die in Afrin bislang das Sagen hatten, Terroristen. Laut Erdogan sind sie mit der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK verbandelt. Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs sowie des vor bald drei Jahren wiederaufgeflammten Kurdenkonflikts in der Türkei will Erdogan verhindern, dass die Kurden an der Grenze zur Türkei quasi einen eigenen Staat betreiben, den die PKK-Kämpfer als Rückzugsgebiet nutzen können. Er sieht sich durch die Kurdenkämpfer bedroht und nutzt die Gunst der Stunde, das Gebiet unter seine Kontrolle zu bringen.
Angriff auf Afrin war lange geplant: Die Türkei hat schon seit längerem damit gedroht, Afrin – und auch die anderen, von den Kurden in Nordsyrien kontrollierten Gebiete – anzugreifen. Wieso der Angriff gerade jetzt erfolgt, ist unklar. Sicher ist, dass die Russen den Angriff tolerieren und die türkischen Kampfjets die Region ungehindert angreifen lassen. Schliesslich kontrolliert Russland den Luftraum in dem Gebiet. Noch im letzten Jahr schickten die Russen einige Soldaten in die Region, um einen türkischen Angriffe zu verhindern. Doch Moskau zog die Soldaten nach Gesprächen mit Ankara im Januar ab und machte die Bahn für Erdogan frei, seine Truppen loszuschicken. Inzwischen hat die türkische Regierung auch bekanntgegeben, dass sie die Region nach der Eroberung nicht mehr an die Machthaber in Damaskus zurückgeben werde.
Die Russen dulden das türkische Vorgehen: Offenbar geht es den Russen mit ihrem stillen Einverständnis zu Erdogans militärischem Vorgehen gegen die Kurden darum, die USA unter Druck zu setzen. Washington ist mit den Kurdenkämpfern der YPG verbündet. Diese waren im Kampf gegen die Terroristen des «Islamischen Staats» quasi die Bodentruppen der USA – allerdings im Nordosten Syriens. Selber hat das Pentagon laut Angaben vom Dezember 2017 rund 2000 Militärangehörige in Syrien stationiert. Die meisten von ihnen dürften mit den Kurden in Nordostsyrien zusammenarbeiten. Doch die US-Truppen sind sowohl den Russen wie auch Assad ein Dorn im Auge. «Es geht in Afrin eher um strategische Machtinteressen als um das Schicksal der Menschen», sagt darum Inga Rogg.
Darum hält die Türkei niemand auf: Zwar hat der UNO-Sicherheitsrat Ende Februar einen Waffenstillstand für ganz Syrien verordnet. Davon ausgenommen sei jedoch der Kampf gegen Terroristen, heisst es in der Resolution. Erdogan nennt die Kurdenkämpfer der YPG «Terroristen» und geht in Afrin deshalb ungeniert militärisch gegen sie vor. Zwar gibt es internationale Forderungen, er müsse seine Truppen zurückziehen, doch Erdogan denkt nicht daran, dies zu tun. Der Westen scheint auch deshalb ohnmächtig zu sein, weil er befürchtet, Erdogan andernfalls noch weiter in die Arme der Russen zu treiben. «Erdogan nutzt seine Beziehung zu Russland, um die Europäer unter Druck zu setzen», sagt Rogg.