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Restaurantbesuch in Kiew Haute Cuisine in Zeiten des Kriegs

Der russische Angriffskrieg bringt Leid und Zerstörung über das Land. Yevhen Klopotenko schafft mit seinem Lokal so etwas wie Normalität und noch viel mehr: Er inszeniert die ukrainische Küche neu und stiftet damit Identität.

«Hundert Jahre zurück in die Zukunft»: Der Name des Restaurants im Zentrum von Kiew ist Programm. Das Lokal ist gut besucht, es ist vor allem das kulturinteressierte, trendige Hauptstadtpublikum, das hier einkehrt. Viele der Gäste sind jung, eine Frau hat ein weisses Hündchen dabei, das am Boden sitzt und dem Treiben neugierig zuschaut.

Blick ins Restaurants
Legende: Im Restaurant gibt es viel Naturholz, getrocknete Wiesenblumen und getöpfertes Geschirr. Alles ist in elegantem zeitgenössischem Design gehalten. Judith Huber/SRF

Der Koch Yevhen Klopotenko, der das Lokal seit 2019 zusammen mit einer Partnerin betreibt, sagt stolz: Es sei das ukrainischste Restaurant der Welt: «Wir verwenden keine Zitronen, keinen Schwarzen Pfeffer: Wir setzen nur Zutaten ein, die in der Ukraine wachsen, zu hundert Prozent.» Er serviert eine Vorspeise: Pastinaken mit geräuchertem Sauerrahm und Beeren.

Ein Gericht, wie man es wohl vor 500 Jahren in der Ukraine habe essen können, so Klopotenko. Doch so genau weiss man es nicht, und das ist der Punkt: Die Sowjetisierung und Russifizierung der Ukraine hat die alten Traditionen fast ausgelöscht, die ukrainische Küche wurde davon nicht verschont.

Entdeckungsreise in die kulinarische Geschichte

Es hätten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lediglich noch drei, vier ukrainische Kochbücher existiert, so der 37-jährige Klopotenko. Deshalb machte er sich auf eine Entdeckungsreise. Er reiste durchs Land, sprach mit alten Leuten, und liess sich von der Literatur inspirieren: «Manchmal schrieben sich Schriftsteller Briefe, in denen sie Gerichte erwähnten.»

Eine weitere Inspirationsquelle: Traditionelles Liedgut. «Es tanzte ein Fisch mit einem Krebs, und die Petersilie mit der Pastinake», singen zwei Kosaken in einem ukrainischen Film aus der Sowjetzeit. Und so sind Pastinaken zu einem wichtigen Bestandteil seiner Küche geworden, ein Gemüse, das kaum mehr erhältlich war und niemand mehr zubereitete.

Identitätsstiftende Küche

Auch Hirse verwendet er oft, so etwa als süssen Brei zum Dessert, verfeinert mit Mohnsamen und Sauerampfer. Doch der Verkaufsschlager des umtriebigen Küchenchefs ist die Randensuppe Borschtsch – für ihn ein wichtiges Kulturgut der Ukraine. 60 Prozent seiner Gerichte koche er nach traditionellen Rezepten, 40 Prozent seien Neuinterpretationen, sagt Klopotenko.

Yevhen Klopotenko
Legende: Was dem exzentrischen Koch mit dem langen Schnurrbart und den wilden Locken besonders wichtig ist: Dass seine Küche erschwinglich ist. Er wolle nicht für Reiche kochen, sondern für alle, sagt er. Und die Leute danken es ihm, sie kommen, auch aus Neugier auf die ukrainische Küche. Judith Huber/SRF

«Für uns Ukrainer ist die Suche nach der Identität sehr wichtig», sagt Klopotenko. «Mit Beginn des Krieges kamen besonders viele Menschen hierher, sie begannen, ukrainisch zu sprechen statt russisch, die ukrainische Geschichte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Und dasselbe gilt für das Essen.»

Das Risiko ist überall. Man weiss am Abend nicht, ob man die Nacht überleben wird.
Autor: Yevhen Klopotenko Ukrainischer Starkoch

Das Restaurant in Kiew ist nicht das einzige Lokal des umtriebigen Kochs. Kurz nach Kriegsbeginn hat er ein Bistro in der Stadt Lwiw eröffnet – und dort während drei Monaten gratis für Geflüchtete gekocht. Ein weiteres Lokal in Kiew hat letzten Sommer die Tore geöffnet. Ausserdem hat er die Schulkantinen reformiert und gibt Kochbücher heraus. Er ist also zum Unternehmer herangewachsen, und das in Zeiten des Krieges.

Wie geht das zusammen? Klopotenko lacht und sagt: «Es ist einfacher als vor dem Krieg. Früher habe ich mir Sorgen gemacht, bankrott zu gehen.» Doch jetzt denke er nur von Tag zu Tag, es sei einfacher, Risiken einzugehen. Denn: «Das Risiko ist überall, man weiss am Abend nicht einmal, ob man die Nacht überleben wird.» Und Geld gebe man so leichter aus, denn vielleicht brauche man es am nächsten Tag ja gar nicht mehr.

Rendez-vous, 03.01.2025, 12:30 Uhr

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