Der letzte Tag Grossbritanniens als Mitglied der Europäischen Union nach fast 50 Jahren war begleitet von starken Emotionen. Mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum schied Grossbritannien um Mitternacht aus der Union. Allerdings ändert sich vorerst kaum etwas. In einer Übergangsphase bis Ende Jahr gelten alle Vereinbarungen mit der EU weiterhin, müssen aber neu verhandelt werden.
In Brüssel und anderen Hauptstädten in Europa schwang zum Abschied viel Wehmut mit, doch auch in London herrschte kaum Feierlaune. Im Regierungsviertel in London standen sich Demonstranten beider Positionen im Brexit-Streits unversöhnlich gegenüber.
Gegner des EU-Austritts zogen in einem weitgehend stummen Protestzug vom Regierungssitz Downing Street zum Parlament. Dabei wurden sie von Brexit-Befürwortern mit Sprechchören und teils wüsten Beschimpfungen empfangen.
«Alte Freunde, neuer Anfang»
Bei einem gemeinsamen Auftritt sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begleitet von EU-Ratspräsident Charles Michel und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, David Sassoli: «Wir gehen in diese Verhandlungen in dem Geist, dass alte Freunde einen neuen Anfang suchen.»
Mit gutem Willen werde man eine «dauerhafte, positive und sinnvolle Partnerschaft» aufbauen können, schrieben die drei Präsidenten auch in einem Gastbeitrag, der in vielen europäischen Zeitungen erschien.
Die drei Vorsitzenden zeigten sich aber auch selbstkritisch – denn Grossbritannien ist der erste EU-Staat der Geschichte, der die Union verlässt. Als Lehre aus dem Brexit werde sich die EU mehr um die Unterstützung durch ihre Bürger bemühen und den Wert des Projekts im Alltag sichtbarer machen, sagte Michel.
In Frankreich nannte Staatspräsident Emmanuel Macron den EU-Austritt ein «historisches Alarmzeichen» und «einen traurigen Tag». In seiner Fernsehansprache forderte Macron weitere Reformen für die EU – es sei bisher nicht gelungen, Europa ausreichend zu ändern.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte den Wunsch nach einer engen Beziehung zu Grossbritannien: «Das ist ein tiefer Einschnitt für uns alle.»
Keine Feierlichkeiten
Die britische Regierung hatte für den Zeitpunkt der historischen Zäsur um Mitternacht (23 Uhr Lokalzeit) keine grossen Feierlichkeiten angesetzt: «Big Ben», die schwerste Glocke im Uhrenturm von Westminster läutete nicht, und am Parliament Square wehten britische Flaggen und ein Countdown wurde am Regierungssitz projiziert.
Ausgelassener feiern wollte dagegen der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage. Die Initiative «Leave means Leave» organisierte ein Fest vor dem Parlament. Ein Feuerwerk untersagte Farage aber.
Premierminister Boris Johnson betonte erneut die Chancen des Brexit als Neuanfang für das Land. «Es ist ein Moment der echten nationalen Erneuerung und des Wandels», sagte Johnson in einer Videobotschaft am Abend. Seine Aufgabe sei es nun, das Land zu einen und voranzubringen. Er will bereits am Montag in einer Rede seine Verhandlungsziele für die Gespräche über die künftige Beziehung zur EU vorstellen.