Weisse Klippen, kreischende Möwen und viele farbige Lastwagen. Das ist der Hafen von Dover.
Im Stundentakt bringen die Fährschiffe die Lastwagen über den Ärmelkanal. 8000 pro Tag. Dover ist der wichtigste Verbindungshafen zu Europa, und dies werde Dover auch in Zukunft bleiben, sagt der 78-jährige John Matock grimmig.
Die Briten seien ein seefahrendes Volk und mit gröberen Schwankungen vertraut. Dover habe zudem schon Schlimmeres erlebt als den Brexit, sagt der ehemalige Steuermann der Handelsmarine. «Vergessen Sie nicht, Dover war im Ersten Weltkrieg die erste Stadt, auf die Bomben fielen.»
Dann das Höllenfeuer im Zweiten Weltkrieg. Dann die Schiffskatastrophe der «Herald of Free Enterprise» mit 190 Toten im Jahr 1987. Zwei Jahre später nicht weit von hier der Bombenanschlag auf ein Marinedepot durch die IRA.
«Die Menschen hier sind hart im Nehmen. Und sie werden sich auch dieser Herausforderung stellen. Sie werden ihr Bestes geben und sie werden es überleben,» sagt Matock.
Die Bastion gegen die Wehrmacht
Die Bewohner von Dover haben tatsächlich schon einiges erlebt. Die weissen Klippen waren Bastion gegen Römer, Napoleons Truppen und die deutsche Wehrmacht.
Das fünf Kilometer lange Tunnel- und Bunkerlabyrinth im Innern der Klippen ist heute zwar ein Museum, doch eine gewisse Skepsis gegenüber dem europäischen Festland ist immer noch spürbar.
An schlechten Tagen könne man Frankreich sehen, knurrt Cliff, der in Dover einen Teeladen betreibt. Er freut sich, dass Grossbritannien nun endlich die EU verlässt. Zuviel Geld habe man nach Brüssel geschickt und zu viele Menschen seien eingewandert.
Natürlich seien viele Leute nach Grossbritannien gekommen, um zu arbeiten oder zu studieren. Aber viele seien allein gekommen, um zu profitieren und Sozialleistungen zu erhalten. «Das halte ich für völlig falsch. Es gibt in Grossbritannien genug Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, denen nicht geholfen wird. Das macht mich wütend.»
Die Kontrolle über die eigenen Grenzen war für viele Briten ein wichtiges Argument, um für den Brexit zu stimmen. Doch viele Menschen wissen ebenso, dass ohne das europäische Festland in Dover gar nichts geht.
Es gibt in Grossbritannien genug Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, denen nicht geholfen wird.
Eine von ihnen ist Lilly Parker, die in der Innenstadt von Dover einen Gemüsestand betreibt. Heute im Angebot: dicke, saftige Tomaten aus Spanien – gestern via Frankreich angekommen.
«Wenn die Franzosen wollen, können sie die Route nach Dover und damit unseren Hafen einfach blockieren. In den Strassen von Dover und in den umliegenden Dörfern würden sich die Lastwagen kilometerlang stauen.»
Johnson verspricht glänzende Zukunft
So weit wird es vorderhand nicht kommen. Nach dem formellen Austritt beginnt für Grossbritannien am 1. Februar die sogenannte Transitionsphase. Während diesem «Interregnum» möchte London mit Brüssel ein Freihandelsabkommen aushandeln.
Boris Johnson verspricht seinen Landsleuten dabei eine glänzende Zukunft. Doch Lilly Parker sieht in erster Linie ein weiteres Jahr Stillstand. Sie glaubt, dass ein weiteres Jahr Diskussionen geführt werden, die nichts bringen.
Der formelle Austritt sei doch nur der Anfang. «Ich wünschte mir, sie würden diese unendliche Geschichte nun zu einem Ende bringen. Wir haben eine Entscheidung getroffen, aber es ist noch nichts entschieden. Es macht einen einfach verrückt, besonders, wenn man in dieser Hafenstadt lebt. Niemand weiss, was passieren wird, und das macht einen traurig.»
Sie ist mit dieser Gemütslage nicht allein. Selbst die Möwen auf den Dächern von Dover scheinen leicht depressiv verstimmt zu sein.
Tatsache ist jedenfalls, dass die Menschen in Dover – egal wie sie abgestimmt haben – genug vom Brexit haben. Allein die Erwähnung des Unworts lässt viele Menschen im Stadtzentrum von Dover leicht angewidert zusammenzucken. «Brexit? Oh Gott!», seufzt Nikolai.
Der 23-jährige Slowake kam als Säugling nach Grossbritannien. «Meine Eltern kamen nach Grossbritannien, weil sie ein besseres Leben suchten. Hier in England verdient man in einer Woche so viel wie in der Slowakei in einem Monat.»
Zudem habe Grossbritannien gute Schulen, ein hervorragendes Gesundheitssystem und, nicht zu vergessen, eine wunderbare Königin.
Nikolai hat vor zwei Jahren die Berufsschule als Mechaniker beendet. Seither sucht er eine Arbeit und hofft, dass seine Familie Grossbritannien nach dem Brexit nicht verlassen muss. «Ich fürchte, die Menschen, die aus aller Welt nach Grossbritannien gekommen sind, werden nun viel verlieren. Ihre Wohnungen, ihre Jobs und insbesondere ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.»
Umzug nach Belgien?
Viele hätten deshalb Angst, doch wenn die Briten die Familie von Nikolai nicht mehr wollten, würden sie wohl weiterziehen. Belgien habe die Mutter kürzlich erwähnt. Offenbar ein schönes Land, habe er gelesen. In Belgien gäbe es auch eine Königin – aber keinen Brexit.
Seit Tagen wird in Grossbritannien darüber debattiert, ob am Freitag um Mitternacht im ganzen Land die Kirchenglocken läuten sollen. Mittweile ist klar, dass diese Frage jede Kirchengemeinde selber entscheiden kann. In Dover werden sie nicht läuten.
Äussern mag sich die anglikanische Priesterin nicht dazu. Der Brexit habe die Gemeinde verunsichert, man werde beten, schreibt sie. 62 Prozent der Leute in Dover haben für den Brexit gestimmt. Die beiden älteren Herren, die wir vor der St. Mary Church treffen, gehörten nicht dazu. «Ich glaube, der Brexit ist ein Fehler», sagt John.
Der Austritt aus der EU ist absolut dumm. Boris Johnson, dem wir das zu verdanken haben, ist eine reine Zeitverschwendung.
«Ein grosser Fehler, ein riesiger Fehler» fügt sein Kumpel Jimmy an. «Der Austritt aus der EU ist absolut dumm. Und Boris Johnson, dem wir das zu verdanken haben, ist eine reine Zeitverschwendung. Das meine ich ernst. Was er dem Land angetan hat, ist schrecklich.» John macht sich zudem grosse Sorgen um die Zukunft.
Angst vor endlosen Zollformalitäten
«Dover wird besonders leiden. Ich war früher viele Jahre im Frachtgeschäft tätig und ich erinnere mich an die mühsamen Zollformalitäten bei der Einreise in Länder, die nicht in der EU sind. An den Grenzen kilometerlange Lastwagenkolonnen. Entsetzlich, entsetzlich. Und das wird hier auch passieren.»
James Hookham von der britischen Transportvereinigung hofft das nicht. Wissen kann es niemand. Denn egal, wie gross das Feuerwerk am 31. Januar in London sein wird, wie viele Glocken läuten und Gedenkmünzen geprägt werden: Die künftigen Spielregeln zwischen London und der EU müssen in den kommenden Monaten erst einmal ausgehandelt werden.
Hoffen auf Freihandelsabkommen
Solange die Spielregeln nicht bekannt seien, könne sich die Branche nicht anpassen, klagt Hookham im Hafen von Dover. «Dazu müssten wir wissen, welche Art von Brexit wir haben werden, ob es nun einen Freihandelsvertrag gibt, eine Zollunion, einen Vertag nach dem norwegischen Modell oder eher Kanada plus oder minus.»
Und weiter: «Bis wir das wissen, ist es für Unternehmer und Transporteure sehr schwierig, mehr zu tun, als das Schlimmste zu planen.» Das Schlimmste wäre, wenn das Freihandelsabkommen zwischen London und Brüssel bis Ende Jahr nicht zustande kommt, was bedeutet, dass Grossbritannien zum Versuchslabor des Chaos werden könnte.
Die Leute in Dover würden als erste davon erfahren – nicht in den Nachrichten, sondern vor ihren Fenstern.