Sollen russische Sportlerinnen und Sportler bei den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris teilnehmen dürfen oder nicht? Knapp 500 Tage vor Beginn und mitten im blutigen Ukraine-Krieg stellt sich tatsächlich diese Frage. Die nationalen Komitees müssen bald entscheiden, welche Haltung sie vertreten, denn in vielen Sportarten beginnt in diesem Frühling die Qualifikationsphase.
Der Sportphilosoph Gunter Gebauer schätzt, dass die Mehrheit der Länder mit den IOC-Bestrebungen zugunsten russischer Teams an der Seine kein Problem hat. Nationale Komitees aus Europa, darunter Swiss Olympic, sind aber klar dagegen.
SRF News: Wie beurteilen Sie die Bestrebungen des Internationalen Olympischen Komitees?
Gunter Gebauer: Das ist eine ganz unglückliche Bestrebung angesichts des gewaltig tobenden Ukraine-Kriegs. Europa ist entsetzt und doch wird so getan, als ob man ohne Weiteres friedlich miteinander Sport machen könnte.
Wäre es eine Lösung, die russischen Sportlerinnen und Sportler eine Erklärung unterschreiben zu lassen, in der sie den Krieg verurteilen?
Das glaube ich nicht. Es wäre wohl ein Zwang, der möglicherweise die meisten russischen Athletinnen und Athleten dazu verführen würde, falsche Deklarationen abzugeben. Es ist bekannt, dass von ihnen bis zu 80 Prozent aus dem Armeesport kommen. Wenn diese unterschreiben, dass sie gegen den Krieg und friedliebende Menschen sind, bekommen sie sicher grosse Probleme im eigenen Land und stellt sie in eine Erpressungssituation. Das finde ich nicht fair ihnen gegenüber.
Ist es nicht problematisch, wenn Sportlerinnen und Sportler möglicherweise einzig aufgrund ihrer Nationalität ausgeschlossen werden?
Das ist zugegebenermassen problematisch. Allerdings repräsentiert das russische Nationale Olympische Komitee (NOK) das Land und hat sich hinter die russische Angriffspolitik gestellt. Alle Sportlerinnen und Sportler gehören zum NOK. Das Gros der Mannschaft wird sich unabhängig von allfälligen Erklärungen hinter die nationalen Ziele der russischen Kriegsführung stellen. Ausnahmen kann es immer geben und wird es schätzungsweise sogar geben. Das Ganze steht aber eklatant im Widerspruch zur Olympischen Charta.
Das IOC ist eine machtlose Organisation, die in Bezug auf Kriege und Diplomatie quasi über keine Mittel verfügt.
Was kann das Internationale Olympische Komitee künftig tun, um solche Diskussionen zur vermeiden?
Das weiss ich nicht. Es fehlen Patentrezepte. Bei dieser Krise gibt es eine ganze Reihe von nationalen Komitees, denen der Ukraine-Krieg egal ist. Es ist wahrscheinlich sogar die Mehrzahl der Komitees. Ausserhalb Europas stellt man fest, dass das Interesse an diesem Krieg sehr gering ist. Es stört die meisten Komitees nicht. Insofern sehe ich keine Lösung. Das IOC ist zugleich eine völlig machtlose Organisation, die in Bezug auf Kriege und Diplomatie quasi über keine Mittel verfügt. Sie tut zwar wie ein Riese, ist aber ein Scheinriese.
Das Gespräch führte Rachel Beroggi.