Baschar Barhoum wacht in seiner Gefängniszelle in Damaskus auf. Es ist sein letzter Tag. Denn der 63-jährige Schriftsteller weiss: Nach sieben Monaten Gefangenschaft wird er von den berüchtigten Sicherheitskräften des Sednaja-Gefängnisses abgeholt – und hingerichtet.
Da tauchen sie auf, die Männer, vor seiner Zellentür. Doch Barhoum bemerkt schnell: Das sind nicht die Männer von Diktator al-Assad. Es sind Rebellen, die ihn befreien wollen. In einer anderen Zelle weichen Frauen schreiend zurück, einige mit Kindern. «Habt keine Angst ... Baschar al-Assad ist gestürzt! Warum habt ihr Angst?»
Aus «Menschen-Schlachthaus» befreit
So geschehen gestern Sonntag. Die Aufständischen unter der Führung der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die in nur zehn Tagen die 50-jährige Herrschaft der Assad-Familie stürzten, brachen in Gefängnisse und Sicherheitseinrichtungen ein, um politische Gefangene herauszuholen. Manche von ihnen waren seit Beginn des Bürgerkriegs vor 13 Jahren in Gefangenschaft, wie die Nachrichtenagentur AP berichtete.
Schätzungsweise wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte bis anhin Zehntausende von Häftlingen, darunter auch Frauen mit Kindern, freigelassen – nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in Aleppo, Homs und Hama.
Das Sednaja-Gefängnis, in dem Barhoum festgehalten wurde, wird in Syrien «Menschen-Schlachthaus» genannt. Es war eines der Foltergefängnisse, in denen Assad seine Gegner verschwinden liess.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte schätzt, dass seit dem Beginn des Bürgerkriegs 2011 in Syrien mehr als 100'000 Menschen in den Gefängnissen ums Leben gekommen sind, vor allem durch Folter, 30'000 davon in Sednaja.
Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden jede Woche Dutzende Menschen heimlich hingerichtet. Nur 6000 Gefangene, die in Sednaja jemals die Zellen von innen sahen, kamen wieder raus.
Noch nicht alle in Sicherheit – die Zeit drängt
Noch sind nicht alle Gefangene in Sicherheit. Denn im Sednaja-Gefängnis soll es Geheimzellen im Keller geben. Mitglieder des syrischen Zivilschutzes, auch als Weisshelme bekannt, suchen gemäss eigenen Angaben systematisch nach politischen Gefangenen.
Mit Hunden und Geräuschsensoren versuchen Spezialisten, die Geheimzellen aufzuspüren, schrieb der Leiter des Zivilschutzes auf X. Sie würden von Personen begleitet, die alle Einzelheiten des Gefängnisses kannten, schrieb Weisshelm-Leiter Raid Al Saleh. Und: «Es gab Leichen in den Öfen», sagte Al Saleh dem Nachrichtensender Al-Dschasira. Schätzungen zufolge wurden inzwischen bis zu 50'000 von 150'000 Inhaftierte freigelassen.
Die Zeit drängt. Wie die Korrespondentin des deutschen Senders ZDF, Golineh Atai, berichtete, sei die Situation kritisch. Vor Ort werde versucht, die Türen zu den Zellen Tausender Gefangener aufzubekommen, «die in Kellern vegetieren». Die Bewacher der Zellen seien die Einzigen gewesen, die die elektronischen Codes dafür gehabt hätten. Die Belüftung des Kellers sei ausgefallen, die Menschen darin drohten zu ersticken.
Barhoum, der das Glück hatte, nicht in einer unterirdischen Zelle eingesperrt worden zu sein, spazierte gestern Sonntag als freier Mann ungläubig durch die Strassen. «Anstatt morgen tot zu sein, hat er mir, Gott sei Dank, ein neues Leben geschenkt.»