Die meisten Menschen auf der Welt haben zuletzt harte Zeiten erlebt. Die Reichen dagegen sind laut Oxfam die grossen Gewinner der Krisenjahre: Zum Start des WEF in Davos hat die Entwicklungsorganisation einen Bericht zur Ungleichheit auf der Welt veröffentlicht. Das Verdikt: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander.
Demnach haben die fünf reichsten Menschen der Welt – allesamt Männer – ihr Vermögen seit 2020 mehr als verdoppelt. Gleichzeitig wurden fast fünf Milliarden Menschen, die ärmsten 60 Prozent, noch ärmer.
Die Reichen werden also immer reicher. Aber werden die Armen deswegen automatisch ärmer? Reto Föllmi, Volkswirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen (HSG), verneint: «In den letzten dreissig, vierzig Jahren hat die weltweite Armut deutlich abgenommen.» Demnach lebte in den 1980ern noch ein Drittel der Weltbevölkerung in extremer Armut. Heute liegt dieser Anteil unter zehn Prozent.
Die Schere und der Kuchen
Werden also alle immer «reicher»? Für Länder Südostasiens und auch China kann der Ökonom dies bestätigen: «Sie haben deutlich aufgeholt und der Wohlstand von breiten Schichten ist gewachsen.» Heisst: Die Schere zwischen Arm und Reich geht zwar auseinander – aber insgesamt wurde auch der Kuchen grösser.
Zwar habe das Einkommen der Reichsten in den einzelnen Ländern deutlich stärker zugenommen als das Einkommen des Mittelstands, sagt Föllmi. «Gleichzeitig sind in vielen ärmeren Ländern grosse Schichten in den Mittelstand vorgedrungen und haben die extreme Armut verlassen können.»
In Afrika herrscht weiter grosse Armut
Auch ärmere Schichten profitieren also vom Wachstum des Wohlstands in der Welt. Oxfam geht das allerdings viel zu langsam: Bei ihrer Auswertung kommt die Nothilfe- und Entwicklungsorganisation zum Schluss, dass die Welt bei der aktuellen Wachstumsrate schon in zehn Jahren ihren ersten Dollar-Billionär haben könnte. Die globale Armut dagegen wäre auch in 230 Jahren noch nicht vollständig überwunden.
Und auch wenn es weltweit weniger Armut gibt: Nicht allen Menschen geht es besser – und vor allem nicht überall. «Vor allem in Asien ist die Abnahme der Armut zwar besonders signifikant. In Afrika verharrt aber leider weiterhin ein Grossteil der Bevölkerung in extremer Armut», so Ökonom Föllmi, der sich mit Ungleichheit und Vermögensverteilung beschäftigt.
Schweiz als «Hort der Stabilität»
Und wie sieht die Situation in der Schweiz aus? Wie so oft sei die Schweiz auch mit Blick auf die Verteilung des Wohlstands ein Hort der Stabilität, sagt Föllmi. «Doch auch in der Schweiz sieht man, dass die Top-Einkommen in jüngster Zeit stärker zunehmen als der Durchschnitt.» Insgesamt seien die Reallöhne in den letzten Jahrzehnten aber auf breiter Front gestiegen.
Doch auch wenn die Löhne steigen: Das Leben wird teurer, die Mieten steigen ebenso wie die Krankenkassenprämien und die Pandemie wirkt noch immer nach. «Die Coronazeit ist in meiner Erinnerung allerdings die erste Wirtschaftskrise, in der die tieferen Einkommen nicht gegenüber den hohen Einkommen verloren haben», sagt Föllmi.
Die Teuerung schlage aber tatsächlich bei vielen Menschen stark ein, schliesst Föllmi. «Doch mit einer gewissen Verzögerung steigen auch die Löhne wieder an.» Und auch die Inflation komme und gehe. Der Ökonom rechnet denn auch nicht damit, dass wir dauerhaft ärmer werden.