15. Januar 2014, Flughafen Peking, Gepäckabgabe. An dem Tag sah Jewher Ilham ihren Vater zum letzten Mal. Die damals 18-Jährige sollte den bekannten uigurischen Ökonomen Ilham Toti in die USA begleiten, wo er eine Gastprofessur antreten wollte. Doch dann kam ein Mann in schwarzer Uniform dazwischen, der Toti abführte. Er wurde wegen «Separatismus» verurteilt.
Seit 2017 hat seine Tochter nichts mehr von ihm gehört. Familienbesuche seien verboten worden. Es sei keinerlei Kontakt mehr möglich. Sie wisse nicht, ob ihr Vater in ein anderes Gefängnis verlegt wurde. Sie wisse nicht mal, ob er noch lebe.
Vor wenigen Wochen war sie es, die für ihn in Strassburg den renommierten Sacharov-Preis des Europaparlaments entgegennahm. Jetzt, bei der Begegnung auf dem Genfer Menschenrechtsgipfel, wirkt Ilham ruhig, konzentriert – auch noch nach einem halben Dutzend Interviews.
Wäre in meiner Heimat jeder Zehnte ein Extremist, wie schlimm müsste dann die Lage hochgerechnet auf die Weltbevölkerung sein?
Sie trägt einen dunklen Hosenanzug, das Haar streng zurückgekämmt. Sie lächelt selten, und wenn, dann nur kurz. Aber sie wirkt energisch, beginnt mit der Antwort jeweils schon bevor die Frage fertig ist. Weshalb betrachtet das Regime in Peking ihren Vater als Gefahr?
«Ich glaube gar nicht, dass man ihn für gefährlich hält. Er ist ja schon jahrelang vorher überwacht worden.» Polizisten seien ständig bei ihnen zu Hause vorbeigekommen, hätten gar da gegessen, als seien sie Freunde der Familie.
Was den Machthabern aber offenbar missfiel, war die internationale Aufmerksamkeit, die Ilham Toti erfuhr. Viel besucht wurde vor allem seine Webseite, die für den Abbau der Spannungen zwischen den Uiguren und der chinesischen Mehrheitsbevölkerung der Han warb. Wozu Spannungen abbauen, wenn es doch laut offizieller Lesart gar keine gibt?
Ein Leben im Exil
Die junge Aktivistin lebt heute in den USA, dreht dort gerade einen Dokumentarfilm über die Unterdrückung der turksprachigen, muslimischen Minderheit der Uiguren. In ihrem Bekanntenkreis gebe es in jeder Familie Leute, die in die riesigen Umerziehungslager gesteckt wurden, zumindest vorübergehend. Die Führung in Peking spricht von Berufsbildungszentren, Jewher Ilham von Konzentrationslagern.
Ilham findet es lächerlich, dass Peking immer mit dem Terrorismus komme. «Wäre in meiner Heimat jeder Zehnte ein Extremist, wie schlimm müsste dann die Lage hochgerechnet auf die Weltbevölkerung sein?»
Doch das abgrundtiefe Misstrauen der Staatsführung in die Uiguren sei die Ursache für deren Benachteiligung – auch jetzt wieder, im Zusammenhang mit dem Corona-Virus: In Urumtschi, der Hauptstadt der Heimatprovinz der Uiguren, gebe es ebenfalls viele Kranke, sagt Ilham. Doch dorthin würden keine Ärzte geschickt, stattdessen viele abgezogen nach Wuhan.
Die Hoffnung bleibt
Sie wirft dem Westen nicht Feigheit vor der chinesischen Macht vor. Doch sie ist enttäuscht, dass die UNO den Uiguren-Konflikt ausblendet. Sie weiss aber, wie entschlossen Peking gegen Länder vorgeht, von denen es kritisiert wird. Dennoch erwartet sie, dass sich diese verbünden, um gemeinsam gegen Chinas Unterdrückungspolitik vorzugehen.
Und sie ist optimistisch – will optimistisch bleiben: Bis zum Tag, an dem die Lager geschlossen würden und ihr Vater freikomme.
Echo der Zeit, 18.02.2020, 18 Uhr; imhm