In den Bergen von Afghanistan lebt ein Volk, das so arm ist, dass es sich keine Häuser leisten kann. Sie leben in Höhlen, die von buddhistischen Mönchen vor hunderten von Jahren in den Fels gehauen wurden.
Es sind Flüchtlinge aus Kriegsprovinzen, die über die Berge nach Bamiyan geflüchtet sind, jene kleine Provinz im Herzen von Afghanistan, die vor allem durch ihre weltgrössten stehenden Buddha-Statuen berühmt wurde. Und noch viel mehr durch das Verbrechen, das die Taliban begangen haben, als sie diese Buddha-Statuen im März 2001 in ihrem Wahn zerstörten.
Der Schlüssel, um vorwärtszukommen
Freshta Ahmadi ist eine der Geflüchteten, eine energische, selbstbewusste junge Frau, die uns in fliessendem Englisch empfängt. 19 Jahre alt ist sie, und die einzige, die der Gemeinschaft von Höhlenbewohnern so etwas wie eine Zukunftshoffnung gibt.
Bildung ist doch unsere einzige Chance!
Ahmadi hat sich nämlich kurzerhand zur Lehrerin erklärt und unterrichtet in ihrem Felsenloch die gesamte Kinderschar aus den Höhlen von Bamiyan. «Bildung ist doch unsere einzige Chance! Wir sind eine völlig zurückgebliebene Gemeinschaft, da ist Wissen der Schlüssel, um vorwärtszukommen und uns weiterzuentwickeln.»
Ein lokaler Sprachlehrer war vor drei Jahren auf Ahmadi aufmerksam geworden. Er hat sie gefördert. Drei Jahre später spricht sie besser Englisch, als wir dies je tun werden. «Sie ist ein Naturtalent», erklärt ihr Förderer lachend.
Heute erhält Ahmadi Unterstützung von einer kleinen amerikanischen Nicht-Regierungsorganisation. 45 Franken bekommt sie monatlich für ihre kleine Schule – das ist etwa ein Zehntel dessen, was man in Afghanistan braucht, um eine normale Familie zu ernähren.
Eine Bibliothek, trotz verheerender Armut
Ahmadi führt uns in ihre Schulhöhle. Von der Decke des kleinen Raumes baumeln farbige Wimpel, an der Wand hängt eine weisse Tafel. Ahmadi zeigt auf ein kleines Gestell in der Ecke: «Das ist meine Mini-Bibliothek», erklärt sie stolz. 23 Bücher zählen wir.
Natürlich bin ich nicht glücklich, dass ich hier leben muss. Aber wir haben keine andere Wahl.
Ein paar Steinstufen weiter oben ist der Eingang zur Wohnhöhle. «Das ist unser Esszimmer. Hier schlafen wir auch.» Wir blicken auf nackte Steinwände, eine nackte Steindecke und einen nackten Steinboden. Einzig in einer Ecke entdecken wir ein paar Kissen. Darauf liegt einer von Ahmadis Brüdern: «Wir sind neun: mein Vater, meine Stiefmutter, ich, meine Geschwister.» Ahmadis Mutter starb, als sie zwei Jahre alt war.
«Natürlich bin ich nicht glücklich, dass ich hier leben muss. Aber wir haben keinen Rappen, wir haben keine andere Wahl.» 40 Jahre Krieg haben Afghanistan nicht nur verwundet und verwüstet, sie haben auch eine verheerende Armut gebracht.
Wider das weltweit tiefste Bildungsniveau
Plötzlich beginnt sich der Berg mit Leben zu füllen. Von überall her strömen die Kinder auf Ahmadis Höhle zu. Vom Zweitklässler bis zur Achtklässlerin kommen alle, um zu lernen.
«Als diese Kinder das erste Mal hierherkamen, wussten sie nichts über Dari, unsere lokale Sprache, und nichts über Englisch. Sie konnten weder in Dari noch in Englisch schreiben, sie kannten das Alphabet nicht. Es macht mich so stolz, dass sie sich heute sowohl in Englisch als auch in Dari präsentieren können.»
Es macht mich extrem stolz, dass meine Schüler so hart arbeiten, und dass wir uns weiterbilden können.
Afghanistan hat eines der tiefsten Bildungsniveaus der Welt. Jeder zweite Mann und drei von vier Frauen sind Analphabeten. Doch als wir in die Runde fragen, wer lesen und schreiben könne, halten fast alle auf: «Ich bin so glücklich! Es macht mich extrem stolz, dass meine Schüler so hart arbeiten, und dass wir zusammenwachsen und uns weiterbilden können.»
Angst vor der Rückkehr in alte Zeiten
Doch selbst das kleine Glück dieser Kinder steht auf tönernen Füssen. Frieden ist im ganzen Land nicht in Sicht. Die führenden Köpfe Afghanistans sind korrupt und zerstritten, und die fundamentalistischen Taliban sind auf dem Vormarsch. Und über allem droht der vorschnelle Abzug der Amerikaner.
Wenn die Taliban zurückkehren würden wir wieder zurückfallen in das, was wir heute mühsam zu überwinden versuchen.
«Dieser Krieg zerstört unsere Häuser, er zerstört unsere Bildung, er tötet Menschen. Unsere Leben sind in ständiger Gefahr. Ich selbst fürchte mich vor allem vor den Taliban: Die sind wirklich gefährlich, die töten und zerstören Leben. Das ist ein grosses Unglück für uns.»
Sollten die Taliban in Afghanistan wieder an die Macht gelangen, wäre dies das Ende ihrer Schule: «Wir werden dann gar nichts mehr tun können. Wir würden wieder zurückfallen in das, was wir heute mühsam zu überwinden versuchen.»