Erst der Eklat im Weissen Haus, als der ukrainische Präsident Selenski von US-Präsident Donald Trump und seinem Vize J.D. Vance vorgeführt wurde, nun das Aussetzen der Ukraine-Hilfe. Wo führt das hin? Einschätzungen des Experten.
SRF News: Wie überrascht oder schockiert ist man auch als Experte noch von den aktuellen Entwicklungen?
Carlo Masala: Die grundsätzliche Tendenz überrascht nicht, weil das eigentlich als Worst-Case-Szenario seit einem Jahr abzusehen ist. Aber die Geschwindigkeit, in der die Dinge passieren, überrascht – das muss ich schon ehrlich sagen. Mich überrascht auch, dass Europa darauf nicht vorbereitet war. Diese naive Haltung, dass man jetzt noch immer glaubt, es «wird schon gut gehen».
Wenn die USA als Unterstützer der Ukraine nun plötzlich wegbrechen, wo und wie kann Europa da einspringen?
Na ja – zunächst muss man festhalten, dass Donald Trump diesen Stopp der Militärhilfen nur temporär begründet, um Druck auf Selenski zu machen, damit er dieses Rohstoffabkommen unterschreibt. Aber wenn die Amerikaner ausfallen würden, dann muss Europa halt jetzt bereit sein, das Ganze zu ersetzen.
Wir haben ja bei Corona oder der Bankenkrise gesehen, was die EU in der Lage ist, an Summen zur Verfügung zu stellen.
Finanziell ist das weniger ein Problem. Es ist eher ein Problem mit Blick auf bestimmte Waffensysteme und Aufklärungs- und Überwachungsfähigkeiten. Die Ukrainer bekommen von den Amerikanern Aufklärungsdaten, damit sie wissen, wo sich russische Verbände befinden. Kritisch ist auch die Luftverteidigung: Wenn die Lenkflugkörper nicht mehr kommen, dann ist die Ukraine nur noch bedingt in der Lage, Grossstädte wie Kiew gut zu schützen.
Wie schnell kann die Rüstungsindustrie in Europa überhaupt liefern?
Die Rüstungsindustrie ist interessiert an langfristigen Verträgen – dann kann sie sehr schnell sehr viel produzieren. Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen: Natürlich dauert es etwas. Wenn Sie heute einen Vertrag schliessen, ist der Panzer nicht übermorgen da, sondern das dauert schon drei Jahre, bis er kommt.
EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlägt einen paneuropäischen Wehretat vor von 800 Milliarden Euro. Ist das realistisch, eine solche Summe zu mobilisieren?
Ja, ist es. Die EU ist nicht arm – und Ursula von der Leyen will ja auch privates Kapital reinholen. Wir haben ja bei der Corona-Pandemie oder der Bankenkrise gesehen, was die EU in der Lage ist, an Summen zur Verfügung zu stellen. Der Punkt ist ganz einfach: Wir haben Staaten in Europa, die relativ wenig in die Verteidigung investieren. Und die sollen dazu befähigt werden, mehr in Verteidigung zu investieren.
Emmanuel Macron hat 2017 um einen europäischen Verteidigungsetat geworben. Kanzlerin Angela Merkel hatte Macron damals am ausgestreckten Arm sozusagen verhungern lassen. Rächt sich das heute?
Ja, das tut es. Die Amerikaner fordern im Prinzip seit zehn Jahren ein grösseres europäisches Engagement im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein. Aber die Europäer haben sich weitestgehend ausgeruht, mit Blick auf den amerikanischen Schutz, den es gegeben hat. Das fällt uns alles jetzt auf die Füsse.
Ist das Tuch zwischen Trump und Selenski definitiv zerschnitten?
Nein – ich glaube, was Trump macht, ist Selenski die Daumenschrauben anzusetzen. Selenski wird keine andere Wahl haben, als das Rohstoffabkommen letzten Endes doch zu unterzeichnen – auch ohne Sicherheitsgarantien. Die Alternative – dass die Amerikaner ihre militärischen Lieferungen einstellen – ist die viel grössere Katastrophe als die Unterwerfung Selenskis.
Das Gespräch führte Alexandra Gubser.