Schüsse auf Donald Trump, der Wahlkampf rhetorisch radikal, die Stimmung in beiden Lagern aufgeheizt. Wie gefährlich die aktuelle Entwicklung ist, haben wir den USA-Experten Manfred Berg gefragt.
SRF News: Herr Berg, was ging ihnen als Erstes durch den Kopf, als sie vom Anschlag auf Donald Trump erfahren haben?
Manfred Berg: Dass sich mit diesem Attentat die politische Polarisierung in den USA weiter verschärfen wird. Dass sich die Anhängerschaft Donald Trumps weiter radikalisieren wird und dass die Wahlen damit sehr wahrscheinlich zugunsten Donald Trumps entschieden sein werden.
Seit dem Sturm auf das Kapitol sagen Sie, die USA befinden sich in einer bürgerkriegsähnlichen Situation. Was genau meinen Sie damit?
Nun, die USA sind ja in einer Situation, in der sie seit Jahrzehnten immer weiter in eine gesellschaftliche Polarisierung abgleiten. Die Gesellschaft und die politischen Parteien sind in ideologische Lager zerfallen, in verfeindete Stämme. Und eine solche Situation birgt, zumal in einer Gesellschaft, die hoch bewaffnet ist, immer das Risiko einer Gewalteskalation.
Moderne Bürgerkriege sind sogenannte low intensity conflicts, in denen nichtstaatliche Gewaltakteure, Terroristen, Attentäter eine entscheidende Rolle oder eine wichtige Rolle spielen.
Wir wissen aus der Geschichte, dass Wahlen, deren Ausgang für eine der beiden Seiten, also vor allem für den Verlierer, nicht akzeptabel ist, immer auch der Funke sein können, der das Pulverfass zur Explosion bringt.
Also Sie sprechen da den Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert an?
Wir dürfen nicht in den Irrtum verfallen, zu glauben, dass sich Geschichte wiederholt. Es wird keinen Bürgerkrieg mit uniformierten Armeen und offenen Feldschlachten geben. Aber moderne Bürgerkriege sind sogenannte low intensity conflicts, in denen nicht staatliche Gewaltakteure, Terroristen, Attentäter eine entscheidende Rolle oder eine wichtige Rolle spielen. Und eine solche Situation halten inzwischen sehr viele Beobachter innerhalb und ausserhalb der USA für durchaus denkbar. Sie wird auch sehr ernsthaft in der Wissenschaft diskutiert.
Welche Parallelen sehen Sie denn zur Situation beim Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert?
Letztlich ging es vor dem Bürgerkrieg von 1861 um die Frage der nationalen Identität. Sollten die USA eine Gesellschaft freier, gleicher weisser Männer sein? Oder sollten sie eine Republik sein, die von einer Sklavenhalter-Aristokratie dominiert wird?
Schätzungen zufolge befinden sich etwa 400 Millionen Waffen in Privatbesitz. Es wird also im Falle einer Gewalteskalation sicher nicht an Schusswaffen fehlen.
Beide Gesellschaftsmodelle, davon waren viele Zeitgenossen überzeugt, würden auf Dauer nicht miteinander koexistieren können. Und heute haben wir eine Situation, in der es ebenfalls um die nationale Identität geht, nämlich um die Frage, ob die USA eine und wie die USA zu einer multiethnischen Demokratie werden können oder ob sie weiterhin, wie sie es ja über die meiste Zeit ihrer Geschichte gewesen sind, eine weisse christliche Nation bleiben sollen. Und dieser Identitätskonflikt ist ungelöst, und er wird mit grosser Schärfe ausgetragen.
Studien zeigen ja auch, dass der Anteil jener Leute in der US-Gesellschaft, welche Gewalt als legitimes politisches Mittel betrachten, in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Derzeit sind es fast 20 Prozent, und zwar in allen politischen Lagern. Wie interpretieren Sie das?
Das ist Teil der Polarisierung. Ich halte es aber für noch problematischer, dass in den USA Schätzungen zufolge etwa 400 Millionen Waffen sich in Privatbesitz befinden. Es wird also im Falle einer Gewalteskalation sicher nicht an Schusswaffen fehlen.
Ein Wahlkampf, der von beiden Seiten unter dem Motto ‹Alles oder nichts› geführt wird, ist ein Wahlkampf, der ein hohes Gewaltrisiko birgt.
Und wir haben ja vor allem im Feld der Rechtsextremen eine militante Milizbewegung, die Proud Boys oder die 3 Percenters, die im Grunde bereitstehen für das, was sie als zweite amerikanische Revolution verstehen.
Welche Rolle spielt denn dabei die Wahlkampfrhetorik auf beiden Seiten? Sie haben jetzt eher die Republikaner angesprochen, aber auch auf demokratischer Seite ist die Rhetorik scharf. Man sagt, wenn Donald Trump wieder ins Weisse Haus einzieht, ist die Demokratie gefährdet.
Nun, ich selber gestehe, dass ich diese Warnungen nicht für unbegründet halte, denn Donald Trump hat ja in der Tat klargemacht, dass er wie ein gewählter Diktator regieren möchte. Und das Urteil des Supreme Courts vom 2. Juli hat ihm dafür in mancher Hinsicht zumindest einen Blankoscheck ausgestellt. Aber es ist richtig: Ein Wahlkampf, der von beiden Seiten unter dem Motto ‹Alles oder nichts› geführt wird, ist ein Wahlkampf, der ein hohes Gewaltrisiko birgt. Ich denke, dass wir aus dieser Polarisierung auch in diesem Jahr nicht herauskommen.