«U-S-A! U-S-A!», skandierten die Delegierten am demokratischen Parteikongress in Chicago – genauso wie es die Republikaner im Juli an ihrem Parteitag in Milwaukee getan hatten. Doch die beiden Seiten bejubelten grundverschiedene Versionen ihres Landes.
Die Vision der Demokraten
Kamala Harris, die gestern in Chicago ihre lang erwartete Rede hielt, umriss ihre zukunftsgerichtete Vision: Ihre Wahl biete die Möglichkeit, Bitterkeit und Zynismus zu überwinden und einen vorwärts gerichteten Pfad abzustecken. Gemeinsam könne man der «aussergewöhnlichsten Geschichte, die je erzählt wurde» ein neues Kapitel hinzufügen.
Trump hingegen wolle das Land in eine düstere Vergangenheit zurückführen, erklärte Harris. Er habe eine extreme Agenda und sei eine Gefahr für die US-Demokratie, die globale Stabilität oder die Abtreibungsrechte der Frauen.
Die Vision der Republikaner
Der Unterschied zur republikanischen Leseart ist frappant. Mit fast apokalyptischen Warnungen beschreibt Donald Trump ein Land, das im Niedergang begriffen sei: Die USA erlebten eine Invasion illegaler Einwanderer, die Drogen und Kriminalität ins Land bringen würden. Die USA würden im Ausland nicht mehr respektiert. Sollte er nicht gewählt werden, so Trump, so drohe eine wirtschaftliche Katastrophe, wie sie die USA seit 1929 nicht mehr erlebt hätten. Nur er könne das Land wieder grossartig machen («Make America Great Again»), verspricht Trump seinen Anhängern schon seit Jahren.
Am republikanischen Parteitag war es noch Joe Biden, der als der Totengräber der USA dargestellt wurde. Später erklärte Trump die neue Kandidatin Kamala Harris zur «sozialistischen Verrückten», die das Land zugrunde richten werde, falls er, Trump, nicht gewählt werde.
Demografisch entzweite Parteien
Diese zwei Interpretationen der USA, wie sie an den Parteitagen vorgetragen wurden, sind ein Ausdruck der starken politischen Polarisierung. Längst haben sich die Parteien auch demografisch entzweit.
Am demokratischen Parteitag war die Vielfalt der Delegierten augenfällig, die auch durch Zahlen belegt ist: Gemäss dem «Pew Research Center» ist die Wählerschaft der Demokraten deutlich multiethnischer als die republikanische Wählerschaft.
Auch die republikanische Partei ist kein monolithischer Block und konnte etwa bei Latino-Wählerinnen und -Wählern zulegen. Aber im Wesentlichen ist sie eine weisse Partei geblieben: Etwa acht von zehn republikanischen Wählenden sind weiss. Ebenso viele sehen sich als Christen. Das erklärt wohl teilweise, weshalb republikanische Wähler der Meinung sind, das Land gehe vor die Hunde und müsse wieder «grossartig» gemacht werden: In einem zunehmend säkularisierten, multikulturellen Land droht den weissen, christlichen Amerikanerinnen und Amerikanern Bedeutungsverlust.
Existenzielle Bedrohung für das Land
Seit Kamala Harris die Kandidaten der Demokraten ist, tritt Obiges auch in sehr offensichtlicher Weise zutage: Eine Frau mit einer indischen Mutter und einem jamaikanischen Vater tritt an gegen einen alten, weissen Mann.
Dass die beiden Kandidierenden, Trump und Harris, den Wählerinnen und Wählern an den Parteitagen zwei sehr unterschiedliche Visionen für die Zukunft des Landes präsentierten, ist in einer Demokratie nichts Ungewöhnliches. Dass sich die beiden Parteien aber gegenseitig als existenzielle Bedrohung für das Land sehen, ist bedenklich.
Man fragt sich, wie lange das gut gehen kann – besonders in einem Zweiparteiensystem wie in den USA.