Die «Springfield Metallic Casket Company» war einst eine der grössten Sargfabriken der USA. Sie stellte Särge her für Präsidenten und Mafiabosse. Heute liegt hier nur noch der amerikanische Traum begraben.
Der Kamin des roten Backsteingebäudes ragt windschief in den Himmel, an dem die Wolken so rasch vorüberziehen, als wollten sie diesen Ort im Westen Ohios genauso schnell hinter sich lassen wie die Einwohner, die das Städtchen in den letzten Jahren verlassen haben. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen, irgendwo schlägt ein loses Metallstück gegen einen Rahmen.
Doch Kevin Rose glaubt daran, dass der «American Dream» in Springfield nur in einem Dornröschenschlaf liegt. Und macht sich auf, die Stadt wiederzuerwecken. «Wir werden oft als «Rostgürtel» bezeichnet. Manche stören sich an dem Begriff, andere finden ihn treffend. Und das ist er doch: Springfield ist eine Stadt, die in den letzten 50 Jahren vom Weg abgekommen ist.»
Springfield war einmal eine kleine Stadt am Ende eines grossen Weges. Damals, als der grosse Treck, der von der Ostküste Amerikas in den Wilden Westen führte, hier endete, begann der Aufstieg dieser Stadt – um später, wie so viele der Springfields Amerikas, krachend auf dem Boden der wirtschaftlichen Realität aufzuschlagen.
Der verlorene «American Dream»
Schon 1983 hatte sich das Magazin «Newsweek» aufgemacht, den Verbleib des «American Dream» zu ergründen. Ein Jahr lang trugen die Reporter Zahlen zusammen, wälzten Statistiken und suchten nach Erklärungen. Dann fuhren sie nach Springfield, Ohio, um von hier aus ihre Geschichte zu erzählen. Ein ganzes Heft über Springfield und den verloren gegangenen amerikanischen Traum.
Der Niedergang der Stadt verlief stetig.
«Springfield fiel nicht wie andere Städte in den USA plötzlich über eine steile Klippe. Der Niedergang der Stadt verlief stetig, 70, 80 Jahre lang.» Kevin Rose steht in der riesigen, leeren Fabrikhalle der Sargfabrik und schaut auf die rostigen Fundstücke, die er und seine Mitstreiter einer millionenschweren Stiftung hier zusammengetragen haben. Die alten Firmenschilder und Dekorationsteile zeugen von längst vergangenen, glorreichen Zeiten.
«Springfield verlor auch nicht auf einen Schlag tausende von Jobs. Das Problem war vielmehr, dass die hiesigen Firmen gross und grösser wurden, dass sie noch mehr wachsen wollten, dass sie dann ihre Managements in die grossen Städte verlagerten, und dass die Manager so immer mehr die Verbindung zu ihren eigentlichen Produkten, ihren Mitarbeitern, und auch ihren Kunden verloren.» Plötzlich waren die Jobs in Springfield nicht mehr viel wert: «Die Leute hatten zwar vielleicht noch eine Arbeit. Aber sie brachte nicht mehr genügend ein.»
Und so verliessen immer mehr Menschen diesen Ort, bevor er nach ihren Ersparnissen auch noch ihre Seelen auffrass. In keiner anderen Stadt der USA blutete die Mittelklasse so sehr aus wie in Springfield, Ohio. Nirgendwo zogen zwischen den Jahren 2000 und 2014 mehr Gutverdienende weg wie hier. Und nirgendwo wuchs gleichzeitig die Zahl der Schlechtverdienenden stärker als hier. Das Median-Einkommen sank alleine in dieser Zeitspanne um 27 Prozent – stärker als an jedem anderen Ort im Land. Wer heute in die Stadt hineinfährt, fährt an Reihen von heruntergekommenen, verfallenen Häusern vorbei.
An der Schwelle zum Aufschwung
Auch im Stadtzentrum sah es bis vor Kurzem so aus. Kevin Rose steht vor einer Häuserzeile und deutet auf die Gebäude: «Diese ganze Fassade war zugemauert. Es gab nur ein einziges kleines Fenster und dort unten eine Türe zu einem Sportgeschäft, das aber schon lange pleitegegangen war.» Heute steht hier eine schicke Zeile aus Kaffees, einer Bäckerei und zwei italienischen Restaurants.
Es ist der Hebel, mit dem Rose und die «Turner Stiftung», für die der Historiker arbeitet, den Bevölkerungsschwund stoppen und das Leben nach Springfield zurückbringen wollen. Und das gelingt ihnen immer besser: «Springfield steht an der Schwelle zum Aufschwung. Immer mehr Leute ziehen wieder hierher. Weil die Jobs langsam zurückkehren, weil die Löhne steigen, und weil sie sehen, dass die Stadt wieder ein Ort zum Leben wird.»
Leben kehrt ins Stadtzentrum zurück
Ein Ort zum Leben, der selbst wieder lebendiger wird. Kevin Loftis hat in einem Teil der ehemaligen Sargfabrik eine Brauerei eröffnet. Die hippe Fabrikhalle ist voll an diesem Donnerstagabend, Loftis veranstaltet einen Wettbewerb, «The Slice of Springfield». Eingeladen sind alle Pizza-Bäckereien der Stadt, erkürt wird die beste Pizza, die Jury ist das Publikum.
Loftis' Familie lebt seit mehr als 100 Jahren in Springfield. Er selbst zog als junger Student zuerst in die weite Welt und kehrte erst vor wenigen Jahren zurück: «Ich war irgendwann reif genug, um zu merken, dass Springfield auch etwas bietet. Und ich sah, dass es aufwärts ging. Da floss viel Geld ins Stadtzentrum, auch um Läden und Restaurants dahin zu bringen.»
Die Wut wird weniger
Die Schwierigkeiten, mit denen die USA unter Präsident Biden kämpfen, spüren sie auch hier in Springfield. Corona, die Inflation, die Liefer-Engpässe. In der Vergangenheit führten solche Entwicklungen unter anderem zu Enttäuschung und politischer Wut. Das Phänomen Trump gründet auch darin. Im Springfield von heute scheine die Wut aber langsam zu schwinden, sagt Loftis.
«Lasst es mich so sagen…» Loftis nimmt einen grossen Schluck aus seinem Bierglas. «Springfield stand mehrmals davor, wieder in Schwung zu kommen. Vor 2008 ging es gerade wieder ein wenig aufwärts, da kam die Finanzkrise. Diese Rezession hat uns echt weh getan. Doch wir haben uns wieder aufgerappelt - und gerade als es wieder aufwärtszugehen begann, liefen wir in die Pandemie.»
Heute geht es eher zwei Schritte vor, und einen zurück.
Loftis schüttelt sich beim Gedanken an Covid und die ganzen Massnahmen, obwohl an diesem Abend in seiner Brauerei keiner eine Maske trägt und vermutlich auch nie getragen hat. «Das heisst, früher ging es immer einen Schritt vor und dann wieder zwei Schritte zurück.» Doch seit einiger Zeit, so Loftis, scheine sich das geändert zu haben: «Heute geht es eher zwei Schritte vor und einen zurück.» Damit, vermutet Loftis, ändere sich langsam auch das ganze Lebensgefühl.
Junge Zuzüger
Einen der wichtigsten Gründe für die neue Blüte Springfields finden wir ein bisschen ausserhalb des Zentrums: Nebst neuer Jobs und neuen Möglichkeiten gibt es hier günstige Häuser zu kaufen. Ein grosses, viktorianisches Haus kostet unrenoviert keine 50'000 Dollar.
Das lockt vor allem jüngere Paare an, die zwar eine anständige Ausbildung und anständige Jobs haben, aber noch keine grossen Einkommen. Wie Nancy und Elias Worley. Sie sind in ihren 20ern und erwarten in Kürze ihr erstes Baby. Sie empfangen uns in ihrem frisch renovierten Haus in einem Quartier, in dem sich heruntergekommene Villen und Gebäude wie ihres abwechseln.
Ich wollte Teil sein dieser Stadt, wenn sie ihren nächsten Schritt macht.
«Wir stiessen auf viel Unverständnis, als wir dieses Haus kauften», erklärt Nancy an ihrem grossen Esstisch in der hohen, offenen Stube. «Viele sagten uns, wir seien dumm. Dass wir doch hier keine Familie gründen könnten. Und dass wir es bereuen würden…» Doch Nancy und Elias liessen sich nicht abhalten: «Ich wollte Teil sein des Comebacks. Ich wollte Teil sein dieser Stadt, wenn sie ihren nächsten Schritt macht und nach den schwierigen Jahren wieder auf die Füsse kommt.»
Elias wuchs in Springfield auf, er arbeitet als Feuerwehrmann. Seine Frau Nancy stammt von der Ostküste. Ihr Argument, weshalb sie trotz aller Widerstände ausgerechnet hier ihre Kinder grossziehen wollen, ist schlagend: «Es gibt hier noch viel Armut, die Nachbarschaft ist immer noch durchzogen. Aber weshalb das nicht ändern? Weshalb nicht anders sein und Kinder hier grossziehen? Denn es wird nicht besser hier, solange wir es nicht besser machen!»