Eines vorweg: Es gibt keinen bestätigten Einsatz chemischer Waffen im Ukraine-Krieg. Dennoch steht die Befürchtung im Raum, Wladimir Putin könnte derartige verbotenen Kampfstoffe einsetzen. Zuletzt blitzte am Montag ein solcher Vorwurf auf, als das berüchtigte ukrainische Asow-Regiment behauptete, die Russen hätten in Mariupol eine chemische Substanz eingesetzt.
Auch wenn sich solche Vorwürfe nicht bestätigen lassen, so sei es doch wichtig, dass eine Art externe Überprüfung stattfinde, erklärt Stephen Herzog vom Center for Security Studies der ETH Zürich. Denn da Länder wie die USA und Grossbritannien darauf hingewiesen haben, dass mit einem russischen Chemiewaffeneinsatz im Ukraine-Krieg eine «rote Linie» überschritten werden könnte, seien Beweise entscheidend.
SRF News: Stephen Herzog, wie weist man den Einsatz chemischer Waffen nach?
Stephen Herzog: Dazu sind physische Beweise erforderlich, etwa durch Umweltproben aus der Nähe des Angriffs. In einem belagerten Ort wie Mariupol wäre es jedoch äusserst schwierig, eine unparteiische internationale Überprüfung durch die in Den Haag ansässige Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zu erreichen. Detaillierte medizinische Untersuchungen mutmasslicher Opfer könnten jedoch Nebenprodukte von Toxinen im Blut aufzeigen. Allerdings ist die Geschwindigkeit bei einer solchen Untersuchung entscheidend.
Im Ukraine-Krieg gab es Meldungen über den möglichen Einsatz von Phosphor-Munition. Wäre das ein Verstoss gegen die Chemiewaffenkonvention?
Nein. Weisse Phosphor-Munition ist zwar eine Chemikalie, sie gilt nach dem Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) aber nicht als chemische Waffe. Sie ist nicht verboten, weil der Schaden, den sie verursacht, auf der Erzeugung grosser Hitze beruht – und nicht auf Vergiftung. Phosphorbomben werden häufig zur Markierung von Zielen oder zur Erzeugung von Nebelschwaden eingesetzt. Allerdings verbietet die Konvention über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) von 1980 ihren Einsatz in bewohnten Gebieten. Phosphor kann grossflächige Brände verursachen und das Einatmen von Partikeln im Rauch zu inneren Verletzungen führen. Es erzeugt einen Geruch, der an Knoblauch erinnert.
Wie wirken chemische Waffen?
Chemische Kampfstoffe vergiften die Menschen. Sie können in Form von Aerosolen versprüht oder in Raketen, Artilleriegranaten, Granaten oder Bomben eingebracht werden. Dann breiten sie sich in gasförmiger, flüssiger oder fester Form aus. Je nach der Menge der versprühten Chemikalien oder nach Wucht der Explosion kann dies über ziemlich grosse Gebiete erfolgen.
Was können sie in einem Krieg anrichten?
Im Gegensatz zu Phosphor-Munition sind chemische Kampfstoffe keine effizienten Kriegswaffen. Sie können nur in sehr begrenztem Mass Infrastruktur zerstören.
Dies wäre eine äusserst grausame und höchst illegale, aber potenziell wirksame Methode, um widerstandsfähige städtische Zivilbevölkerungen zu schädigen.
Sie dienen vielmehr dazu, in der Zivilbevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten. Dies wäre eine äusserst grausame und höchst illegale, aber potenziell wirksame Methode, um widerstandsfähige städtische Zivilbevölkerung zu schädigen.
Chemische Waffen sind also für die Menschen zwar absolut verheerend, für die strategische Zerstörung von Zielen jedoch quasi unbrauchbar.
In den meisten Fällen sind sie in der Tat nicht besonders nützlich. Feindliche Truppen können sich mit entsprechender Ausrüstung schützen. Die Wirksamkeit hängt zudem stark von den Witterungsbedingungen ab – etwa vom Wind. Sie können ausserdem auch für die eigenen Truppen ein Risiko darstellen und Gebiete unzugänglich machen. Wahrscheinlicher wird der Einsatz von chemischen Kampfstoffen einerseits dann, wenn die Kampflinien statisch sind und die militärische Strategie auf Zermürbung ausgerichtet ist. Andererseits kann sich so ein Angriff gegen die festsitzende Zivilbevölkerung richten, die über keine persönliche Schutzausrüstung verfügt.
Das Interview wurde schriftlich geführt.