Laubhüttenfest in der Nozyk-Synagoge in Warschau. Michael Schudrich, Oberrabbiner von Polen, hat gerade den Wein und die Challah, das Schabbatbrot, gesegnet. Der Auftakt zum Essen. Es gibt, wie in Polen üblich, zuerst Suppe, dann gehen Schüsseln mit Hering, Hummus und Schakschuka herum. An langen Tischen sitzen ein paar Dutzend Gemeindemitglieder.
Vor dem Zweiten Weltkrieg hätten in Warschau Hunderttausende das Fest zur Erinnerung an den biblischen Auszug aus Ägypten gefeiert. Die polnische Hauptstadt hatte vor der Invasion Nazi-Deutschlands nach New York die grösste jüdische Gemeinde weltweit.
Jedes jüdische Leben, das zentraleuropäische Wurzeln hat, ist davon beeinflusst, was in Polen geschah.
Rabbi Schudrich, seit bald zwanzig Jahren der höchste jüdische Geistliche in Polen, sagt: «Jedes jüdische Leben, das osteuropäische Wurzeln hat, ist davon beeinflusst, was hier geschah. Vom Völkermord durch die Nazis auf polnischem Boden und vom Reichtum der jüdischen Ashkenazy-Kultur, die hier jahrhundertelang blühte.»
Heute wird diese Kultur nirgendwo in Polen so zelebriert wie in Kazimierz, dem historischen jüdischen Viertel von Krakau. Zwischen sieben Synagogen und zwei jüdischen Friedhöfen servieren zahllose Restaurants «authentische» jüdische Küche: Gefilte Fisch, Kugele, koscheren Wodka. Jeden Abend gibt es Klezmer-Konzerte. Die Strassen sind so voll von Touristen, dass Kazimierz an manchen Ecken wie ein jiddisches Disneyland wirkt.
Sechs Jahre Shoah können tausend Jahre gelebter jüdischer Kultur nicht auslöschen.
Mitverantwortlich für den Boom ist Janusz Makuch. Seit 1988 organisiert er hier das Jüdische Kulturfestival, das grösste und wichtigste jüdische Kulturereignis in Polen. «Ich will der ganzen Welt zeigen, dass sechs Jahre Shoah, die sechs Jahre des Völkermords an den Juden, die tausend Jahre gelebter jüdischer Kultur hier nicht auslöschen können.»
Durch Kazimierz weht heute ein Hauch von Disneyland. Aber das nimmt er gerne in Kauf, wenn dafür das jüdische Erbe Polens sichtbarer wird.
Dass Polen vom jüdischsten Land Europas zu einem Land praktisch ohne Jüdinnen und Juden wurde, hat mit dem Holocaust zu tun – aber nicht nur. Viele Holocaust-Überlebende verliessen das Land nach dem Krieg.
Polen war nach dem Krieg ein gefährlicher Ort für Juden.
«Für Juden war Polen nach dem Krieg ein grosser Friedhof», schildert Dariusz Stola, ehemaliger Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. «Die Synagoge ist abgebrannt. Kein Jude lebte mehr. Banditen gingen um und Juden waren besonders beliebte Opfer. Andere begegneten ihnen mit Ablehnung, weil sie Angst hatten, die Juden könnten ihre Wohnungen zurückfordern. Polen war nach dem Krieg ein gefährlicher Ort für Juden.» Und, auch ein wichtiger Grund für die Auswanderung, mit Israel gibt es eine Alternative.
Bleibe jüdisch, verlass Polen. Bleibe in Polen, hör auf, jüdisch zu sein.
Von den wenigen Jüdinnen und Juden, die in Polen bleiben, verheimlichen viele ihre jüdische Identität, oft sogar vor der eigenen Familie. Rabbi Schudrich sagt, im kommunistischen Polen habe folgende Devise gegolten: «Bleibe jüdisch, verlass Polen. Bleibe in Polen, hör auf, jüdisch zu sein.» Noch lange nach dem Krieg gibt es in Polen antisemitische Kampagnen. Viele haben Angst.
Jüdische Opfer passten nicht ins Bild der polnischen Kriegshelden
Historiker Stola vermutet, der hartnäckige Antisemitismus habe auch damit zu tun, dass viele in Polen während der Nazi-Besatzung miterlebten, wie ihre jüdischen Nachbarn misshandelt wurden. Das habe bei vielen nicht Mitgefühl ausgelöst, sondern Distanzierung: «Nach dem Motto: ‹Dein Tod ist nicht mein Tod.› So eine Distanzierung hilft, nicht verrückt zu werden. Sie war ein weit verbreitetes Phänomen in Osteuropa, wo Nazis und Kollaborateure so viele Grausamkeiten begangen haben.»
Bis zum Sturz des Kommunismus sind die Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg einseitig als eine Geschichte erzählt worden von polnischen Heldentaten und unschuldigen polnischen Opfern.
Eine Erklärung für die antisemitische Haltung der kommunistischen Machthaber ist zudem, dass Jüdinnen und Juden schlecht zu jener Version der Geschichte passen, die nach dem Krieg staatlich verordnete Wahrheit wird. Dariusz Stola: «Von Ende der 1940er-Jahre bis zum Sturz des Kommunismus 1989 sind die Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg einseitig als eine Geschichte erzählt worden von polnischen Heldentaten und unschuldigen polnischen Opfern.» Eine jüdische Minderheit, die noch viel mehr unter den Nazis gelitten hatte als die polnisch-katholische Mehrheit oder polnische Nazi-Kollaborateure, passte schlecht in dieses Bild.
Noch heute werde in Polen die Zahl der Helden im Zweiten Weltkrieg überschätzt, sagt der Historiker. Aber immerhin sei inzwischen praktisch allen klar, dass auch nichtjüdische Polen Verbrechen an Juden begingen. Und erstaunlich viele Polinnen und Polen setzten sich ein für den Erhalt des jüdischen Erbes – auch an Orten, wo heute keine Juden mehr leben.
Aufbegehren gegen das Vergessen
Einer davon ist der Spitzenkanute Dariusz Popiela, Olympia-Teilnehmer und zweifacher Europameister im Kanuslalom. Er steht auf dem jüdischen Friedhof von Czarny Dunajec, sein Blick gleitet über die 494 Namen, die auf zwei grossen schwarzen Marmorplatten eingraviert sind.
Sie alle gehörten Jüdinnen und Juden, die aus dieser bergigen Gegend im Süden Polens kamen und während oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg umgebracht wurden. Die meisten von ihnen haben die Nazis vergast. Einige fielen im Krieg. Ein paar wurden nach Kriegsende von Kriminellen ermordet.
Zusammen mit Freiwilligen hat Popiela diesen und andere Friedhöfe restauriert: «Das ist mein ganz persönliches Aufbegehren gegen das Vergessen. Es schockiert mich, dass die Hälfte oder ein Drittel einer Stadt ermordet werden kann und es keinerlei Gedenken an die Opfer gibt.» So wie jahrzehntelang in Czarny Dunajec.
Heute ist der Friedhof hier wieder eingezäunt. Zwei Dutzend restaurierte Grabsteine glänzen in der Wintersonne. Im Zentrum des Areals liegen die vier Massengräber mit den Opfern des Holocaust.
Es gibt in Polen zu wenig Aufklärung zum Holocaust. Und wenn, dann geht es um die grossen Zusammenhänge. Was fehlt, ist der lokale Kontext: Was geschah damals hier, in dieser Strasse, in unserem Dorf?
Für Dariusz Popiela ist das Gedenken an so kleinen Orten wichtig: «Es gibt in Polen zu wenig Aufklärung zum Holocaust. Und wenn, dann geht es um die grossen Zusammenhänge. Was fehlt, ist der lokale Kontext: Was geschah damals hier, in dieser Strasse, in unserem Dorf?»
Aus Warschau soll wieder Schmelztiegel werden
Auch die Gastrounternehmerin Justyna Kosmala kümmert sich ums jüdische Erbe. Aber ganz anders. Zum Beispiel mit dem jüdischen Gebäck, das an diesem Morgen in ihrer Backstube am Rand von Warschau im Ofen ist: Chalka, Rugelach und Bagels. Süsser Zopf, Mandel-Quark-Hörnchen und die runden Hefebrötchen mit dem Loch in der Mitte. Verkauft werden sie in den fünf «Charlotte»-Bistros, die Kosmala in der polnischen Hauptstadt betreibt. In einem der In-Lokale stehen zudem polnisch-jüdische Gerichte auf dem Menu. «Die Idee ist nicht, dass man einmal im Jahr in ein elegantes jüdisches Restaurant geht, sondern dass jüdische Gerichte ganz selbstverständlich neben französischen oder polnischen auf der Karte stehen.»
Kosmala wünscht sich, Warschau wäre wieder so multikulturell wie 1939, bevor die Nazis einmarschierten. Mit dem jüdischen Bistro und den jüdischen Backwaren will die Gastronomin zeigen, wie vielfältig das kulturelle Erbe Polens ist: «Essen ist ein guter Ausgangspunkt, um sich über die vielen Gemeinsamkeiten zwischen der polnisch-katholischen Mehrheit und der jüdischen Minderheit auszutauschen.»
Das Grauen schwingt mit
Rabbi Schudrich freut sich über das zunehmende Interesse der Polinnen und Polen am jüdischen Erbe und am jüdischen Leben heute. Aber das Grauen des Holocaust schwingt überall mit.
Auch hier in der Nozyk-Synagoge. Sie steht mitten im ehemaligen Warschauer Ghetto, einem der schrecklichsten Schauplätze der Schoah. «Das muss ich ausblenden. Wenn ich das nicht tun würde, könnte es mich lähmen», sagt der Rabbi. Und das gehe nicht, es gebe zu viel zu tun – für das jüdische Leben in Polen heute.