Das türkische Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, die Wahlen anderthalb Jahre früher durchzuführen. Was hinter der Vorverlegung steckt, erläutert der Journalist Thomas Seibert aus Istanbul.
SRF News: Was steht hinter diesem unerwarteten Meinungsumschwung Erdogans?
Thomas Seibert: Es ist vor allem ein Ausdruck von Panik angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage in der Türkei. Der Aufschwung im Land ist gewissermassen auf Pump finanziert, die Arbeitslosigkeit wächst. Erdogan will dem Ausbruch einer ausgewachsenen Krise entgegenkommen, indem er vorher wählen lässt.
Die Führung der legalen Kurdenpartei HDP sitzt im Gefängnis. Die Medien sind grösstenteils unter Kontrolle der Regierung. Von einer wirklich fairen Auseinandersetzung kann keine Rede sein.
Die Wahlen finden unter Kriegsrecht statt, das Parlament hat gestern den Ausnahmezustand nochmals um drei Monate verlängert. Wie frei und fair können diese Wahlen denn überhaupt sein?
Sie werden nach westlichem Verständnis nicht frei und fair sein, das kann man jetzt schon sagen. Das Kriegsrecht ermöglicht der Regierung, ungeheuren Druck auf die Opposition auszuüben. Die Führung der legalen Kurdenpartei HDP sitzt im Gefängnis. Die Medien sind grösstenteils unter Kontrolle der Regierung. Von einer wirklich fairen Auseinandersetzung kann keine Rede sein.
Kann die neue rechtspopulistische Partei von Meral Aksener für Erdogan gefährlich werden?
Aksener wird auch «Wölfin» genannt und ist Dissidentin von einer anderen rechtsgerichteten Partei. Sie hat viele Anhänger in die neue Gruppierung mitgenommen. Sie hat auf jeden Fall das Potenzial, Erdogan die Stimmen abzujagen, die er braucht, um bei der Präsidentschaftswahl mehr als 50 Prozent zu erhalten. Eine der Hauptfragen wird sein, wie erfolgreich Aksener im Kampf um diese Wählerschichten sein kann.
Man hat schon beim Referendum über die Einführung in das Präsidialsystem letztes Jahr gesehen, dass sich die Wähler besonders in den grossen Städten von der AKP abwenden.
Gibt es enttäuschte AKP-Anhänger?
Die gibt es auf jeden Fall. Es gibt sehr viele Leute, die mit der Wirtschaftspolitik von Erdogan nicht einverstanden sind. Insbesondere bei der Jugend gibt es eine Entwicklung weg von der Erdogan-Partei. Man hat schon beim Referendum über die Einführung des Präsidialsystem letztes Jahr gesehen, dass sich die Wähler besonders in den grossen Städten von der AKP abwenden. Dieser Trend ist auf jeden Fall ungebrochen, man weiss nur nicht, ob er stark genug ist, um Erdogan eine Niederlage beizubringen.
Ist die Vorverlegung der Wahlen ein Zeichen der Stärke von Staatspräsident Erdogan – oder eines von Schwäche?
Es ist auf jeden Fall ein Zeichen von Schwäche. Er hat in den vergangenen Monaten immer wieder erklärt, er halte an dem normalen Wahltermin fest. Der ist erst im November im kommenden Jahr. Dieses Selbstvertrauen ist dahin. Er hat eingesehen, dass er schnell wählen lassen muss, bevor ihm die Wähler weglaufen.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.